: Strategie der Vermeidung
Bei der Diskussion über „Die Türkei der Künstler“ verpasste die Akademie der Künste eine Chance, auch die bedrohte Kunstfreiheit am Bosporus anzusprechen
Von Ingo Arend
Wer spricht von Siegen? Überstehn ist alles.“ Der legendäre Satz ist zwar zu Tode zitiert. Wie kaum eine andere dürfte die Zeile, die einst Rainer Maria Rilke in seinem Requiemgedicht für den Lyriker Wolf Graf von Kalckreuth schrieb, auf das Leben in der Türkei passen.
Verhaftungen, Entlassungen, Krieg gegen die Kurden, bizarre Fatwas aus der Religionsbehörde. Mit eiserner Faust nimmt Staatspräsident Erdoğan derzeit nicht nur die politische Opposition in den Griff.
Trotz der Freilassung Deniz Yücels sind immer noch rund 150 Journalisten in Haft, die berühmten Essayisten Ahmet und Mehmet Altan wurden erst vor Kurzem zu lebenslangen Freiheitsstrafen verurteilt. Ebenso die 73-jährige Schriftstellerin NazlıIlıcak.
Diese Namen und das Wort Gefängnis aber fielen in der Diskussion „Die Türkei der Künstler“ am Donnerstagabend in der Akademie der Künste am Pariser Platz überhaupt nicht. Geschweige denn ein Wort der Solidarität mit den Inhaftierten und Verfolgten.
Stattdessen wurde die Handvoll Zuhörer, die die Frage nach der Lage der Kultur in der Türkei den geballten Festivitäten zum Weltfrauentag am Donnerstag vorgezogen hatten, Zeugen einer seltsamen Strategie der Vermeidung.
„Produzieren und sich frei dabei fühlen“ – das Resümee, das die Künstlerin Canan – deren Videoarbeit an diesem Abend in der Akademie auch zu sehen war – auf dem Podium zog, mag für ihren ganz persönlichen Entwicklungsweg zutreffend sein. Überzeugend schilderte die feministische Künstlerin, Jahrgang 1970, wie sie sich aus den Vorgaben einer strengen Moderne freiarbeitete, nur noch ihren inneren Antrieben folgte und nicht irgendwelchen Trends oder Ansagen an der Marmara-Universität, wo sie studierte.
Zwar war es sicher klug, die Diskussion nicht zum Tribunal gegen den verhassten Erdoğan zu machen. Türkische Künstler wollen auch mal über etwas anderes sprechen. Und sie müssen derzeit aufpassen, was sie sagen. Man kann die Zurückhaltung freilich auch übertreiben.
Moderator Johannes Odenthal, Programmbeauftragter der Akademie, lenkte die Diskussion aber auch nicht auf die Frage, die vermutlich alle Zuhörer bewegte: Wie weit reicht der Spielraum für die autonome Produktion und Entwicklung, den Canan da beschwor, denn heute noch konkret?
Dass die Lage brisant ist, scheint der Akademie bewusst zu sein. Sonst hätte sie zu Beginn des vergangenen Jahres nicht die Gesprächsreihe „You Want Kilims, But I Do Films“ eingerichtet, in der türkische Künstler über ihre Arbeit und die Umbrüche in der Türkei – jenseits stereotyper Zuschreibungen – berichten.
So, wie das Podium an diesem Abend aber hartnäckig von der realen Repression im Lande abstrahierte, blieb jedoch der irreführende Eindruck, künstlerische Arbeit in der Türkei im Moment sei einzig eine Frage des subjektiven Willens: der Fähigkeit, die „Angst abzulegen“, wie es Canan für sich reklamierte. Beziehungsweise sich an dem „Gut der Aufrichtigkeit“ zu orientieren, ohne das es für den Schriftsteller Mario Levi keine gute Literatur geben kann.
Die Frage, ob es jemals wieder ein „Jahrzehnt des Erwachens“ geben könnte, wie die Galeristin Azra Tüzünoğlu die neunziger Jahre der bildenden Kunst in der Türkei so emphatisch beschrieb, blieb ebenso ungestellt wie Levis romantische Idee von Literatur unhinterfragt.
Levi, Jahrgang 1957, hinterließ mit seinem auf Dostojewski, Tolstoi und Tschechow gemünzten Satz, dass auch in „Zeiten der Unterdrückung gute Literatur produziert“ werde, den irritierenden Eindruck während der Gesprächsrunde, ihm käme die AKP-Diktatur gerade recht, um die türkische Literatur von ihrem Weg in die Mittelmäßigkeit abzubringen. Besonders „politische“ Bestsellerliteratur zählt er dazu.
Einzig die Wiener Kultur- und Sozialanthropologin Ayşe Çağlar lieferte neue, kritische Aspekte für die reichlich statische, politisch blinde Diskussion. Die Wissenschaftlerin kritisierte, dass die Kunstwelt mit ihrem Hang zur Kanonisierung der „Wissensproduktion“ Kunst ebenfalls Techniken der Macht anwende.
Wenn die Diskussion am Donnerstag etwas zeigte, dann, wie notwendig eine große intellektuelle Debatte über die Lage wäre. Eine, wie sie dem Künstler İsmail Saray in den achtziger Jahren nach dem Militärputsch vorschwebte.
Seinen Plan hatte das Istanbuler Ausstellungshaus Salt 2014 ausgegraben, als es in einer Ausstellung an diesen, früh nach London emigrierten, Verbindungsmann zwischen der türkischen Kunst der siebziger und der neunziger Jahren erinnerte.
Sollte dieser große Ratschlag der kritischen Kreativen am Bosporus dort nicht mehr möglich sein, wäre der Glasbau der Berliner Akademie der Künste eine schöne Alternative. Dann könnte man dort endlich auch einmal Klartext reden.
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