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Einfühlsame Perspektivwechsel

Mal Opfer und mal Täter sein, das kann man beim Rimini Protokoll. Nun präsentiert das Performancekollektiv seinen „Staat“-Vierteiler

Kein klassisches Bühnentheater: Rimini Protokoll mit „Gesellschaftsmodell Großbaustelle (Staat 2)“, uraufgeführt am Düsseldorfer Schauspielhaus Foto: Benno Tobler

Von Esther Slevogt

Schon mal die Welt durch die Brille eines Waffenhändlers gesehen? Das Performancekollektiv Rimini Protokoll machte es möglich. Und zwar in seiner 2013 bei der Ruhrtriennale uraufgeführten begehbaren Theaterinstallation „Situation Rooms“.

Da konnte man als Waffenhändler neue einschlägige Produkte auf einer Messe vorstellen. Man konnte aber auch als Drohnenfernsteuerer am Bildschirm über die Arbeit sinnieren. Insgesamt gab es bei „Situation Rooms“ zwanzig Figuren rund um den Waffenhandel, vom Banker über den Waffennarren oder den Arzt ohne Grenzen bis zum Bürgerkriegsflüchtling in der Küche des Notaufnahmelagers.

Mit einem iPad am Stiel wanderte man durch die Räume des Sets und konnte die Positionen verschiedenster Figuren einnehmen. Auf dem iPad liefen Filme, immer sah man das Thema Waffe aus einer anderen Perspektive, war mal Opfer und ein anderes Mal Täter. Immer stieß die nächste Perspektive die Gewissheiten der vorangegangenen um. Auf den Schuss folgte stets der Gegenschuss.

Und damit ist schon ganz gut das Grundprinzip der Arbeiten von Rimini Protokoll beschrieben: Gewissheiten aufzulösen, Stoffe oder Konflikte zu sezieren und dabei die Zuschauer tief in diese Konflikte mit hineinzuziehen.

Der Staat von eins bis vier

Vierteiler Es geht um Globalisierung, Digitalisierung, Staatsfeinde … vom 1. bis 25. März ist im Haus der Kulturen der Welt (HKW) und im Neuen Museum in vier Einheiten zu sehen, was die Performancegruppe Rimini Protokoll alles in Sachen „Staat“ recherchiert hat.

Programm Das Netz der Geheimdienste ist Thema von „Top Secret International (Staat 1)“, das in einem interaktiven Museumsbesuch abspaziert werden kann (Neues Museum, Bodestr. 1–3, Termine 1.–25. 3.). „Gesellschaftsmodell Großbaustelle (Staat 2)“ ist ein theatraler Baustellenrundgang im Haus der Kulturen der Welt (1.–4. 3.). Um Wahlen geht es bei „Träumende Kollektive. Tastende Schafe (Staat 3)“, wieder im HKW (1.–4. und 8.–11. 3.), wie auch „Weltzustand Davos (Staat 4)“ (8.–11. 3.). Info: www.hkw.de

So untersuchte Rimini Protokoll 2006 auch schon Karl Marx’ Ökonomieklassiker „Das Kapital“ über das Zustandekommen gesellschaftlichen Reichtums, und gemacht wurde das unter anderem mithilfe eines ehemaligen Maoisten, der inzwischen Unternehmensberater war, mit einem schwer verschuldeten Spielsüchtigen und einem blinden Callcenteragenten, der „Das Kapital“ in Brailleschrift las und davon träumte, bei „Wer wird Millionär?“ abzuräumen.

Mit Hilfe dieser schauspielerischen Laien und ihres Erfahrungshorizontes, die Rimini Protokoll als die inzwischen sprichwörtlich gewordenen „Experten des Alltags“ auf die Bühne holte, wurden um bekannte Stoffe herum neue Versuchsanordnungen geschaffen. Die Verfahren, mit denen Rimini Protokoll aus den Steinbrüchen der Gegenwart immer neue Stoffe brach, wurden mit den Jahren immer komplexer, die szenische Intelligenz stets subtiler: Von Stadtspaziergängen durch Berlin, wo man per Smartphone und GPS an spezifischen Orten Aufzeichnungen von Stasi-Abhörmaterial aktivieren konnte und über die Stadt das Netz einer alternativen Geheimdienstrealität aus der Vergangenheit gelegt wurde, bis hin zum Eindringen 2009 in eine geschlossene Aktio­närshauptversammlung der Daimler AG mitten in der Finanzkrise, in die das Kollektiv auch Zuschauer und sich selbst eingeschleust hatte: per Aktienkauf oder der Abtretung von Vertretungsrechten anderer Aktionäre ans Kollektiv. Damals ein echter Coup.

„Dies ist weder ein Theaterstück noch ein Schauspiel“, versuchte der Aufsichtsratsvorsitzende der Daimler AG die Kontrolle zurückzuerlangen. Dabei war die Versammlung als genau das bloßgestellt: als Theaterstück, zum Zweck der Täuschung der Aktionäre.

Das Grundprinzip: Gewissheiten auflösen, Stoffe oder Konflikte sezieren, die Zuschauer tief in diese Konflikte mit hineinziehen

Rimini Protokoll wurde 2000 von Helgard Haug, Daniel Wetzel und Stefan Kaegi gegründet. Die drei um 1970 Geborenen hatten zuvor am Institut für angewandte Theaterwissenschaften an der Universität Gießen studiert, wo auf der Basis von Brechts Programm des Epischen Theaters Theatertheorie mit seiner Praxis kurzgeschlossen wurde. Auch der Regisseur und Dramatiker René Pollesch stammt aus dieser Schule.

Im März nun sind vom Rimini Protokoll, das seit 2003 in Berlin sein Hauptquartier hat, im Haus der Kulturen der Welt und im Neuen Museum alle vier Teile der „Staat“-Tetralogie zu sehen, deren Teile von 2016 und 2018 in München, Düsseldorf, Dresden und Zürich entstanden sind.

Klammer aller vier Stücke ist der Befund, das die repräsentativen Modelle in Zeiten der digitalbasierten Postdemokratie von Netzwerken abgelöst wurden und auch das herkömmliche wie verlässliche demokratische Prinzip der Gewaltenteilung immer weiter ausgehebelt wird. So geht es um Geheimdienste („Top Secret Interna­tional“), immer weiter eingeschränkte politische Steuerungsmöglichkeiten komplexer gesellschaftlicher Prozesse („Gesellschaftsmodell Großbaustelle“), Data-Mining und Big Data, die zunehmend den Prozess gesellschaftlicher Meinungsbildung manipulieren („Träumende Kollektive. Tastende Schafe“) sowie die Privatisierung der Weltpolitik („Weltzustand Davos“).

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