Freiheit unseren dressierten Körpern

Um Musik in unsteten Zeiten ging es beim CTM-Festival in Berlin. Statt expliziter Kritik gab es unerhörte Klänge

Roscoe Mitchell entlockte der Klarinette hyperschnelle Melodien Foto: Roland Owsnitzki

Von Philipp Rhensius

Wenn Fliegen ihre Beine aneinanderreiben, erbrechen sie Verdauungssäfte und tragen sie auf ihr Futter auf. Sie gehören zu den vorverdauenden Tieren. In Bezug auf Ernährung mag das bei Menschen anders sein. In kulturellen Belangen, sei es im Film, Theater oder Musik, schätzen sie jedoch oft das Vorverdaute. Das führt zur Verkümmerung der Fantasie, der Emotionen – und der Perspektiven auf die Welt.

Aber weil alles mit allem verbunden ist; weil es keine einheitliche Beschreibung der Welt gibt, sondern nur die unverbundenen Fäden verschiedener Welten, ist es schwierig, diese zu verknüpfen.

Festivals wie Club Transme­diale, kurz: CTM, sind da im Berliner Winter eine gute Chance. Denn auf einem der weltweit wichtigsten Festival für experimentelle und elektronische Musik kommen Menschen von überallher zusammen und bringen ihre Sehnsüchte, Perspektiven und kulturellen Vorlieben mit. Zehn Tagen lang lassen sie ihre Körper zusammen tanzen und ihre Seelen von Noise-MusikerInnen anschreien – oder durch audiovisuelle Klanginstallationen verwirren. Im Vordergrund steht hier jene unverdaute Kunst, die das kritische Denken schult.

Das Programm umfasst Stile von Industrial, Noise und Neue Musik über Bass Music aus unterschiedlichen Epochen, aber auch zeitgenössischen Tanz. Mit welcher Inbrunst die BesucherInnen das Programm verfolgen, zeigt deutlich, wie wichtig außeralltägliche kollektive Zusammenkünfte heute sind; in einer Zeit, in der wir ständig erreichbar sein müssen und unser Selbstbild in sozialen Medien immer stärker individualisieren.

Den Festivalmachern ist das seit der Gründung 1999 bewusst. Das Motto „Turmoil“, zu Deutsch Aufruhr, ist auch in diesem Jahr ein dezidiert politisches. Da unbehagliche Zeiten unbehagliche Musik erfordern, gehe es laut Festivalleiter Jan Rolf darum, mit „radikaler Musik den aktuellen Gefühlslagen etwas entgegenzusetzen“.

Der Sinn blieb verborgen

So war das Festival auch in diesem Jahr eine Herausforderung für die Sinne – und zeigte Möglichkeiten auf, Widerstand zu leisten: gegen die dominanten Aufmerksamkeitsökonomien in sozialen Medien und gegen die routinierte Wahrnehmung unserer dressierten Körper.

Beginnen wir mit Ersterem, dem Widerstand gegen Technologien, die unser Bewusstsein kolonisieren. Radikal dystopisch wurde Technologie in „Plague“ verhandelt, einer gemeinsam mit dem Partnerfestival Transmediale realisierten Multimedia-Oper des US-Musikers James Ferraro, dem bildenden Künstler Nate Boyce, dem Chor Phønix16 und dem Schauspieler Christoph Schüchner.

Im voll besetzten Auditorium des HKW wurden die BesucherInnen mit postdigitalen Bewegtbildern von einer stetig wachsenden, aus neuronalen Netzwerken bestehenden künstlichen Intelligenz konfrontiert. Ferraros Musik – eine verrückte Mischung aus Messiaen’schen Melodie-Bögen und skelettierter Clubmusik – passte gut zum Tanz des amorphen Dings. Dessen genaue Bedeutung blieb jedoch verborgen.

Genauso wie der Monolog von Schüchner, dessen Outfit, bestehend aus Rollkragenpullover und Turnschuhen, dem verstorbenen Apple-Gründer Steve Jobs nachempfunden war. Dass er eine Schachfigur einer gefährlichen künstlichen Intelligenz verkörpern sollte, erschloss sich erst im Programmtext.

Aufschlussreicher war die Ausstellung „Uncanny Valleys of a Possible Future“ im Kunstraum Bethanien, die unbehagliche Szenarien der nahen Zukunft in Form von Klang- und Video-Installationen im Stile der Post-Internet-Art zeigte. „Uncanny valley“ – unheimliches Tal – heißt das Phänomen, nach dem Menschen Simulationen weniger akzeptieren, je wirklichkeitsnaher sie werden. Am unheimlichsten war die Installation „Duel“ von Zorka Wollny and Andrzej Wasilewski – eine Tesla-Spule, die von miteinander streitenden Stimmen ausgelöst wird. Eine passende Metapher für politische Spannungen.

Elektrisiert waren auch die animierten Figuren in Anne de Vries’Videoinstallation „Critical Mass: Pure Immanence“, in der Tausende geschlechtslose Tänzer in einem Stadion zum Clubmusikstil Hardstyle tanzen.

Womit wir beim Widerstand des Körpers wären, der sich bekanntlich mit Tanz aus der Programmiertheit befreit. Das Festival gab drei exklusive Tanzstücke in Auftrag. Ein Highlight war „Five Berlin“ des US-Choreografen Rashad Newsome, der zusammen mit seinen TänzerInnen und Livemusikern, wie dem Opernsänger Justin Austin und Mc. Princess Mami Precious, die Wurzeln des Voguing untersuchte – jenem Tanz der homosexuellen Subkultur New Yorks, der sich an den Posen von Models orientiert und ein Symbol der körperlichen Selbstbefreiung ist.

Noch beeindruckender war die Kollaboration des Tänzers Roderick George mit dem in Berlin lebenden US-Musiker Lotic. Dessen harsche Bässe, metallische Rhythmen und Alarmsounds verlangten George athletische Bewegungen – mal akrobatisch, mal anmutig – zwischen Breakdance, HipHop und sogar Ballett ab.

Hüftsteifes Publikum

Statt gesagt zu bekommen, wie man sich fühlen soll, musste man sich die Musik des Festivals neu erschließen

Von der kurzweiligen High-Energy-Performance hätte sich das hüftsteife Publikum auf den Clubpartys etwas abschauen können. Denn manche Musik war rhythmisch so verspielt und herausfordernd, dass sie nur mit dem Körper verstanden werden konnte.

Doch während sowohl die überkomplexen Polyrhythmen beim Liveset der US-Footwork-Musikerin Jlin als auch die überdrehten Beats des Berliner BassMusic-Veterans Errorsmith in der zweiten Festivalnacht im Club Ost noch auf relativ willige Körper trafen, war das Publikum am Wochenende darauf im Club Yaam beim Liveset des jamaikanischen Future-Dub-Soundsystems Equiknoxx Music wie gelähmt. Ein bisschen Fremdschämen kam auf, als die Sängerin Shanique Marie, die das Duo mit kantigen Raps und beeindruckend klarem Gesang ergänzte, die Feuerzeuge sehen wollte, das Publikum aber einfach nicht reagierte.

Dabei liegt in ihrer Musik – wie auch der von Jlin – ein Potenzial an Seinsweisen, die sich politisch übersetzen lassen. Nun ist es ja so, dass elektronische Clubmusik seit jeher aus bestimmten Signal-Sounds besteht, die ein Gefühl von Vertrautheit auslösen – wie ein Gitarrenriff in der Rockmusik. Die drei Musiker aus Jamaika kamen ohne die üblichen Reggae-Tröten oder die obligatorischen Rufe an den Rastafari-Gott Jah aus. Wie die Klänge von Jlin und Lotic verweisen sie auf nichts anderes als sich selbst. Auch in der freien Improvisation ist die Suche nach neuen, ungehörten Klängen zentral.

Perfektioniert hat sie das legendäre Avantgarde-Jazz-Duo George Lewis und Roscoe Mitchell, das im HAU auftrat. Während der 77-jährige Roscoe Mitchell vor dem still staunenden Publikum seiner Klarinette hyperschnelle Melodien entlockte, verfremdete der Posaunist George Lewis sie am Laptop zu unheimlichen Atmosphären.

Statt also – wie so oft in der Mainstreammusik – gesagt zu bekommen, wie wir uns fühlen sollen, verwies die Musik des Festivals weder auf eine klare Idee oder einen bestimmten Musikstil noch auf eine Entsprechung in der Natur. Man musste sie sich neu erschließen.

Diese kreative Musikrezeption eröffnet Räume des Neuen, des noch Undefinierten jenseits unserer Denkroutinen. Das ist politisch mindestens genauso wichtig wie explizite Kritik, die unser Ungenügen an der Zivilisation oft nur in der altbekannten Sprache der Kultur kompensiert.