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In Göttingen verteidigt die autonome Szene die Stadt gegen rechtsradikale Horden aus dem Umland – das liberale Bürgertum weiß das zu schätzen

Bei der Arbeit: Die Göttinger Antifa demonstriert hier gegen ein Treffen des rechtsradikalen „Freundeskreises Thüringen/Niedersachsen“ in ihrer Stadt Foto: Swen Pförtner/dpa

Von Jean-Philipp Baeck

Irgendwann kurz nach dem Unglück von Tschernobyl muss es gewesen sein, als meine Eltern mich in Göttingen auf jene Anti-Atom-Demo mitnahmen, von der mir mein Vater seither immer wieder erzählt. Nicht, weil der Protest besonders groß gewesen wäre, sondern weil ich, ein unschuldiges Kindergartenkind, nach vorn gerannt war, um an der Hand eines Polizisten mitzulaufen, der mich wohl beeindruckte. Ich kann nur erahnen, wie peinlich das für meine Eltern gewesen sein musste.

Ein paar Jahre später erinnere ich mich an erneute Demonstrationen. Die Antifaschistin Kornelia „Conny“ Wess­mann war 1989 von einem Auto überfahren worden, auf der Flucht vor der Polizei. Autonome zogen in dunklen Jacken und mit Helmen geschützt durch die Göttinger Innenstadt, gemeinsam mit linken Professoren, alternativen Studenten, Grünen, Sozialdemokraten, meinen Eltern und mir.

Es ist dieses besondere Milieu, das die Stadt ausmacht. Göttingen war immer gerade groß genug, damit sich eine Intelligenzija um die Universität ansiedeln konnte, die mit ihren rund 30.000 StudentInnen und 12.000 MitarbeiterInnen die Stadt bis heute vor der Bedeutungslosigkeit der südniedersächsischen Provinz bewahrt. Linke Akademiker, Grüne, Kommunisten, Hausbesetzer, antiimperialistische und antideutsche Antifaschisten, Anti-AKW-Aktivisten oder Veganer: Göttingen hatte immer alles. Ein Nukleus der Subkultur.

Andererseits war die Stadt immer schon so klein, dass alle sich kannten und zusammenrauften, wenn es darauf ankam. Dass linkes Bürgertum hinter einem schwarzen Block der Antifa herlief. Eltern hinter ihren Kindern. Diese soziale Konstellation hat ihren Anteil daran, dass Göttingen als linke Hochburg gilt. Auch die Abwehr einer brutalen Neonazi-Szene spielte eine Rolle.

Einen eigenen Anteil hat die Polizei: Mobilisierung und Repression sind für Göttinger Linke verwoben.

Für die Mythenbildung eines „Widerstandsnest“ im Süden Niedersachsens könnte man weit zurückgehen. Etwa bis zu den „Göttinger Sieben“, den Professoren, die im Vormärz des 19. Jahrhunderts gegen König Ernst August I. protestierten. Oder im 20. Jahrhundert bis zur Schlüter-Affäre, bei der der Uni-Rektor und mehrere Professoren 1955 durch ihren Rücktritt den niedersächsischen Kultusministers Leonhard Schlüter (FDP) stürzten, der durch rechtsextreme Äußerungen aufgefallen war. Zwei Jahre später forderten 18 Atomphysiker in der „Göttinger Erklärung“ den Verzicht der Bundesregierung auf Atomwaffen.

Diese politische Tradition setzte sich an der Uni 1968 und in den Folgejahren fort. Als der „Göttinger Mescalero“ 1977 mit seinem Text über die Ermordung des Generalbundesanwalts Buback durch die RAF für die Formulierung „klammheimliche Freude“ berühmt wurde, erlebte die Stadt sowohl Durchsuchungen wie Solidarisierungen. Der Asta der Uni veröffentlichte einen Nachdruck des Pamphlets.

In Abkehr von den K-Gruppen-Hierarchien der 1970er-Jahre bildete sich in Göttingen in den 1980er-Jahren dann eine besonders starke autonome Szene. Der Antifaschist Bender, der seit Mitte der 1980er-Jahre in Göttingen politisch aktiv war, sagt, vor allem engagierte Einzelpersonen hätten dafür eine Rolle gespielt – und das Jugendzentrum „Juzi“, das seit 1982 in der Bürgerstraße existierte und zu einem Treffpunkt der Autonomen wurde. „Es waren Schüler, Arbeitslose und Punks, die damals im Juzi unterwegs waren“, sagt er. „Weniger Studenten.“

Die Autonomen jener Zeit fackelten nicht lange. Regelmäßig kam es zu Straßenschlachten und „Scherbendemos“, bei der der Name Programm war. 1986 veranstaltete die Polizei im Jugendzentrum eine Großrazzia. Alle 400 Besucher wurden „erkennungsdienstlich“ behandelt – eine später als rechtswidrig eingestufte Aktion, bei der wohl eine der ersten Listen über Göttinger Linke angelegt wurde. „Mit den lokalen Polizeieinheiten gab es einen Dauerkonflikt“, erinnert sich Bender.

Dazu kam es zu Überfällen durch Neonazis. Mittelbar führte das zum Tod von „Conny“ Wessmann 1989 und unmittelbar zu dem des 21-jährigen Alexander Selchow, der zum Jahreswechsel 1990/1991 von Neonazis im nahen Rosdorf getötet wird. Ereignisse, die in Göttingen radikale Linke und engagierte Zivilgesellschaft zusammenhalten ließen.

Seit 1986 hatte Karl Polacek im nahen Mackenrode ein Zentrum aufgebaut, das einer Festung glich. Der niedersächsische Landesvorsitzende der heute verbotenen Freiheitlichen Arbeiterpartei (FAP) scharte gewaltbereite Neonazis um sich. Auch Thorsten Heise gehörte damals dazu. Heute ist er Landesvorsitzender der NPD Thüringen, war Teilnehmer an Demonstrationen des rechtsextremen „Freundeskreis Thüringen/Niedersachsen“ und steht auf einer BKA-Liste mit „nachgewiesenen Kontakten zu Tätern oder Beschuldigten“ der NSU-Terrornetzwerks.

Damals verprügelten die Neonazis in der Region und in Göttingen MigrantInnen und Linke, griffen Asylunterkünfte, Studentenwohnheime und auch das Jugendzentrum an. Von der Polizei wurde ihnen wenig entgegengesetzt. In den WGs der Autonomen herrschte Alarmbereitschaft.

Am 17. November 1989 folgt auch Kornelia Wessmann einem solchem Alarm, nachdem es zu einer Schlägerei zwischen Neonazis und Autonomen in der Innenstadt gekommen war. Als die 24-Jährige Studentin eintrifft, sind nur noch Beamte des Zivilen Streifenkommandos (ZSK) vor Ort. Als Wessmann wenig später vor den Polizisten flieht, wird sie auf der vierspurigen Weender Landstraße von einem Auto erfasst und stirbt. Ein Funkspruch der Polizei wird bekannt, bei dem der ZSK-Leiter durchgab: „Ich würde sagen, wenn wir genug Leute sind, sollten wir die ruhig mal platt machen, hier.“ Die Polizei erklärte später, dass mit „platt machen“ nur die Personenkontrolle gemeint gewesen sei. Noch in der Nacht hängen Aktivisten ein Transparent an eine Fußgängerbrücke über der Weender Landstraße: „Conny heute von den Bullen ermordet“. In den folgenden Wochen kommt es zu Demonstrationen und teils heftigen Auseinandersetzungen zwischen Autonomen und der Polizei.

Der Tod von „Conny“, wie sie seitdem nur noch hieß, erschütterte auch die Göttinger Zivilgesellschaft. Er markiert den Beginn eines Bündnisses von radikaler Linker und bürgerlicher linker Mitte in der Stadt. Pädagogen und Pastoren gründeten die Initiative „Göttinger BürgerInnen gegen Rechtsextremismus und Gewalt“. Die sozialdemokratische Landtagsabgeordnete Hulle Hartwig und der Grüne Jürgen Trittin marschierten auf den „Conny“-Demos hinter dem Lautsprecherwagen des „schwarzen Blocks“ durch Göttingen, wie die Politikwissenschaftlerin Teresa Nentwig berichtete. Trittin, damals Fraktionsvorsitzender der niedersächsischen Grünen, beklagte auch im Landtag die „Polizeipraxis, die immerhin zum Tod eines Menschen geführt hat“.

Nach der Wende brannten in Deutschland Asylbewerberheime, nicht nur die radikale Linke befürchtete einen neuen Faschismus. 1990 gründete sich in Göttingen die autonome „Antifa M“, die bis zu ihrer Auflösung 2004 in der Antifa-Bewegung in Deutschland tonangebend war. Ihr Auftreten unter einem Label, klaren Mitgliedern, mit Öffentlichkeitsarbeit und Bündnispolitik waren eine Abkehr von der Strategie der autonomen Bewegung der 1980er-Jahre und bildete den Anfang der Antifa neuen Typs. „Es ging darum, sich zu öffnen auch für Menschen, die nicht aus dem subkulturellen Milieu stammten, darum, mit den Medien zu reden und Bündnisse zu schließen“, erklärt Bender.

Bei Demos trat die „Antifa M“ in Göttingen zwar als schwarzer Block und zumindest bei den ersten Demos auch noch mit Helmen auf, doch kam es zu deutlich weniger Gewalt, als man es in Göttingen aus den 1980er-Jahren kannte. „Die schwarzen Klamotten waren ein Selbstschutz, aber vor allem eine Bilderpolitik“, sagt Bender. Bei Bündnis-Demonstrationen habe man nach außen deutlich machen wollen, dass nicht nur Sozialdemokraten und Grünen da waren.

In Briefen an die Versammlungsbehörde erklärten die AntifaschistInnen vor Demos ihr Konzept, dass von ihnen keine Gewalt ausgehen würde, wenn die Polizei sich zurückhielte. Tatsächlich ließen die Behörden die Vermummten meist durch die Stadt ziehen. „Die Polizei in Göttingen war froh, dass sie es nicht mehr mit der Militanz der 1980er-Jahre zu tun hatte“, sagt Bender.

Die Bündnispolitik der Autonomen mit der bürgerlichen Öffentlichkeit kam nicht überall an. Eine Einheit des Landeskriminalamts Hannover ermittelte bis 1995 gegen Aktivisten der „Antifa M“ wegen „Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung“. Das Verfahren wurde noch vor der Anklage gegen Geldauflagen eingestellt. Teil der Ermittlungen und ein Grund für das Platzen der Anklage war auch die damalige Duldung durch die Göttinger Behörden.

Heute ist es ruhiger geworden in der Stadt, auch wenn am „Juzi“ noch Transparente hängen. Es gibt Stress zwischen Antifas und rechten Burschenschaftlern, und weiterhin versuchen Neonazis, Raum zu gewinnen. Ihre Aktivitäten haben sich aber eher in Richtung Südharz verschoben. 2009 bedankte sich der Göttinger Stadtrat mit den Stimmen von SPD, Linken und den Grünen bei der Antifa für ihren „Kampf gegen den Faschismus“. Die Freude über die radikale Linke – in Göttingen ist sie mehr als nur klammheimlich.