Filme zu nah an der Realität

Es gibt verschiedene Gründe, warum Filme verloren gehen: Zensur und Selbstzensur gehören dazu. Die Reihe „Lost Films Found“ im Arsenal

Das Original ist nicht der „Director‘s Cut“, der erst nach Orson Welles’ Tod erschien: „Touch of Evil“ Foto: Foto: Arsenal – Institut für Film und Videokunst

Von Michael Meyns

Verlorene Filme? Sind heutzutage dank Internet, Streamingdiensten und mehr oder weniger legalen Methoden nicht alle Filme verfügbar? Weit gefehlt, was angesichts von mehreren hunderttausend Filmen, die im Lauf der Filmgeschichte bislang entstanden sind, dann auch nicht wirklich überrascht. Zunehmend wird die Archivierung von Filmen zwar zur Gewohnheit, aber für einen erheblichen Teil der während der Stummfilm-Ära produzierten Filme kommt jede Rettung zu spät: Man schätzt, dass zwischen 75 und 90 Prozent sämtlicher vor 1929 gedrehten Filme verloren sind. Nur ab und zu wird in einem Archiv ein unbekanntes Werk entdeckt, so zum Beispiel „A Tolonc/ Die Unerwünschten“ (7. und 11. 2.), den 1914 ein gewisser Mihály Kertész drehte.

Der emigrierte zehn Jahre später nach Amerika und wurde dort als Michael Curtiz zu einem der besten Handwerker des klassischen Studio-Systems, was wohl auch der Hauptgrund ist, warum diesem Frühwerk Aufmerksamkeit zuteil wird. Denn als eigenständiges Werk ist dieses Melodram wenig bemerkenswert, auch wenn die vor einigen Jahren zufällig gefundene Kopie nach aufwendiger Restaurierung von bemerkenswerter Qualität ist.

Allzu viele solcher Zufallsfunde dürfte es in Zukunft nicht mehr geben, allein der Verfall des Filmmaterials macht dies wenig wahrscheinlich. Andere Formen der Neu-, der Wiederentdeckung sind daher bedeutsamer, wie sie auch im Archiv des Arsenals immer wieder stattfinden. Seit Jahren wird dort im Rahmen des Living-Archive-Projekts geforscht und manche verloren geglaubte Perle entdeckt. So etwa eine integrale Kopie von „ORG“ (2. 2.) einem 1979 entstanden surrealen Fiebertraum, den Fernando Birri mit Mario Girotti (aka Terence Hill) in der Hauptrolle inszenierte. Aufgrund seiner Unnahbarkeit, seiner antinarrativen Struktur und auch seiner fast dreistündigen Länge geriet dieser Film bald nach der Premiere in Vergessenheit. Nicht wirklich zensiert, eher eine Form der Selbstzensur, so wie sie auch einem der spannendsten Projekte der Reihe widerfuhr, Orson Welles „Touch of Evil“ (10. und 15. 2).Wie so oft hatte der umtriebige Tausendsassa Welles noch während der Postproduktion schon an anderen Projekten gearbeitet, sodass die Produzenten des späten Film noir eine eigene Schnittversion erstellten. Diese blieb Jahrzehnte die einzige Fassung, war auch keineswegs misslungen, aber eben doch nicht das, was Welles vorschwebte. Erst nach Welles’ Tod tauchte ein Memo auf, in dem der Regisseur darlegte, welche Veränderungen er vornehmen wollte, Änderungen, die erst 1998 der Cutter Walter Murch vornahm. Das seine Version oft als „Director’s Cut“ bezeichnet wurde, deutet allerdings schon die Problematik dieser Restaurierung an, die nicht mehr als ein Versuch sein kann zu erahnen, was Welles vielleicht gewollt hat, keineswegs jedoch ein wirklicher Film von Orson Welles.

Ganz anders liegt die Sache bei Filmen, die in vollständiger Form in den Giftschrank wanderten, Opfer unterschiedlicher Formen der Zensur. So erging es Hermann Zschoches „Karla“ (1. und 12. 2.), der 1965 in der einer Phase entstand, als in der DDR eine gewisse politische und künstlerische Freiheit herrschte. Doch diese Phase währte nicht lang, selbst die heute eher harmlos wirkende Geschichte einer jungen, idealistischen Lehrerin erschien dem 11. Plenum der SED Ende 1965 zu kritisch, wie etliche andere DDR-Filme wurde auch „Karla“ zurückgezogen und erst 1990 wiederaufgeführt.

Man stieß sich an freizügigen Filmen, die angeblich die Jugend verdarben

Eine andere Form der Zensur, eine Selbstzensur, bedeutete das Aus für Filme wie Alfred E. Greens „Baby Face“ (3. und 6. 2.) einem spektakulären Pre-Code-Drama. Dieser Code, der so genannte Hays-Code, wurde 1934 von Hollywood in einem Akt des vorauseilenden Gehorsams ins Leben gerufen, um der Kritik vonseiten der zunehmend prüden amerikanischen Gesellschaft den Wind aus den Segeln zu nehmen.

Die stieß sich immer mehr an den moralisch, sexuell freizügigen Filmen aus Hollywood, die angeblich die Jugend verdarben. Schaut man sich „Baby Face“ an, könnte man eher sagen: die zu nah an der Realität waren. Wie explizit hier erzählt wird, wie ein von Barbara Stanwyck gespieltes Dorfmädchen nach New York kommt und sich nach oben schläft, das verblüfft auch heute noch. Wenn da das nur äußerliche Baby Face in der Personalabteilung eines Unternehmens vorspricht und gefragt wird: „Haben Sie schon Erfahrung …?“, dann lassen Stanwycks Blicke noch nicht einmal den Verdacht aufkommen, dass dies nicht zweideutig gemeint ist. Man mag sich gar nicht ausmalen, wie dieser wunderbar schamlose Film in der geschnittenen Fassung aussah, doch dank einer wiederentdeckte Kopie ist auch dieser verloren geglaubte Film nun wieder verfügbar.

„Magical History Tour
 – Lost Films Found“ im Arsenal vom 1. bis 27. Februar