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„Ich bin so ein Wald- und Wiesen-psychologe“

Georg Tecker hat in Hamburg die taz mitgegründet und war – aus eigener Betroffenheit – Pionier der medizinischen Selbsthilfebewegung. In einem Alter, in dem andere in Rente gehen, eröffnet er demnächst wieder eine psychotherapeutische Praxis

Entspannung ist ein Schlüssel: Georg Tecker lebt seit 25 Jahren beschwerdefrei Foto: Miguel Ferraz

Von Frank Keil

„Bin ich ein Macher?“ Georg Tecker schaut fragend in die Welt. Dabei ist es eine verständliche Frage, listet man auf, was er in seinem Leben schon alles gemacht hat und wo er schon überall dabei war. Aber erst einmal ist er frisch zurück in Hamburg, wohnt ziemlich genau da, wo er damals gewohnt hat, in Eimsbüttel, mittendrin. Und bereitet seine nächsten Schritte vor. „Ich bin jetzt 66 Jahre alt“, sagt er, „ich muss ein bisschen überlegen, was ich mir noch zutraue und was ich mir noch aufbürde.“ Was aber feststeht: Georg Tecker wird sich nicht zur Ruhe setzen. Nein, er wird demnächst einen halben Praxissitz übernehmen, die entsprechenden Weichen hat er ganz in Ruhe gestellt. Und er wird sich weiterhin einsetzen: für die Belange und die Bedürfnisse von Darmerkrankten.

Dass er dies seit Langem tut, hatte zunächst ganz persönliche Gründe: Tecker selbst war 16 Jahre alt, als er an CED erkrankte, kurz für chronisch entzündliche Darmerkrankungen. Das meint vor allem Morbus Crohn und Colitis ulcerosa, schwere Erkrankungen also, begleitet von heftigen Bauchkrämpfen, Durchfall und oft damit einhergehendem, deutlichem Gewichtsverlust; keine Krankheit, die schnell vorbeigeht, in Schüben verlaufend und bis heute nicht heilbar. Manchmal halten die Beschwerden über Jahre, Jahrzehnte gar still – dann sind sie wieder da und lassen sich nicht so schnell wieder abschütteln.

Damals, als er darniederlag, als Teenager im Krankenhaus, wussten die Ärzte nicht gleich, was los war; auch in den nächsten Jahren nicht. „Das Endoskop ist erst um 1970 entwickelt worden“, erklärt Tecker. Und erst seitdem steht ein verlässliches Instrument bereit für eine verlässliche Diagnose.

Tecker ist auf dem Land aufgewachsen, im tiefsten Niedersachsen, Landkreis Vechta, die nächste Stadt ist Osnabrück, die örtliche CDU erhält – egal bei welchen Wahlen – zuverlässig ihre 70, 75, 80 Prozent. Seine Eltern waren katholisch, sehr katholisch, und Georgs erster Berufswunsch war folgerichtig, Priester zu werden. „Doch Pubertät und die Vorstellung Priester zu sein, das schloss sich auf Dauer aus“, sagt er heute trocken. Damals aber bedeutete das ein langes Ringen: „Als ich krank wurde, ging das auch mit einer tiefen Gotteskrise einher.“ Bis er für sich entschied: Nein, ich bin nicht krank, weil ich ein schlechter Mensch bin. Und ich kann – allen aktuellen wie zu erwartenden Einschränkungen zum Trotz – sehr lebendig bleiben.

Das Abitur schaffte er damals trotz der Krankheit. Anschließend Medizin studieren: Das wär’s gewesen. Aber dafür hätte er einen überirdischen Notendurchschnitt haben müssen, und den hatte er nicht, allein wegen seiner eingeschränkten Gesundheit. Er nahm das Studium der Volkswirtschaft auf, inspiriert von einem Seminar zur Sozial- und Wirtschaftsethik beim damaligen Bischof von Münster: „Die Zinsen, das Kapital, die Arbeitslosigkeit, wie das alles zusammenhängt und sich bedingt, das hat mich brennend interessiert.“ Nach einem Semester war aber schon wieder Schluss: „Es war nur Buchhaltung.“

Tecker wechselte das Fach, studierte Biologie auf Lehramt. Seine Abschlussarbeit verfasste er 1974 über gesunde Ernährung – damals noch längst nicht ein so selbstverständliches Thema wie heute. „Im Grunde“, sagt er, „waren da die nächsten Schritte schon vorgezeichnet.“ Aber erst einmal ging er unterrichten, war drei Jahre lang Lehrer an der Integrierten Gesamtschule in Fürstenau nahe der holländischen Grenze: die erste Gesamtschule in Niedersachsen, selbst die CDU war damals dafür, dass man diese Schulform mal ausprobiert.

Glücklich wurde Tecker dabei nicht. Schon das Bewerten sogenannter schulischer Leistungen leuchtete ihm weder ein noch konnte er dazu eine praktikable Haltung gewinnen: „Ich habe damals für mich gesagt: Lieber lasse ich mich von den Schülern kaputtmachen, als dass ich die Schüler kaputtmache! Das ist natürlich auch keine Lösung – aber so habe ich damals gedacht!“

Er ging nach Hamburg, stürzte sich in das Abenteuer Wohngemeinschaft, begann wieder zu studieren, Psychologie. Gleich das dritte Semester war ein Boykott-Semester, und Georg Tecker war mittenmang dabei, organisierte und tat und machte. Ist er also doch ein Macher?

Er war dabei, als der heute legendäre Hamburger „Gesundheitstag“ im Sommer 1981 die damals noch kritisch beäugte Alternativmedizin ins Licht der interessierten Öffentlichkeit rückte. Ein Effekt: Mit der Kontakt- und Informationsstellen für Selbsthilfegruppen (KISS) entstand ein Zentrum der ebenfalls aufblühenden Selbsthilfegruppen; dass Erkrankte Experten sind – für ihr eigenes Leiden, aber auch ihre Ressourcen, dieser heute selbstverständliche Gedanke war damals noch neu. Tecker selbst führte der Weg zur Biodynamischen Psychotherapie bei Gerda Boyesen. Die entwickelte das Modell der Psychoperistaltik und interessierte sich dafür, was unsere Darmbewegungen und -geräusche über das verraten, was uns in unserem Inneren so bewegt, beschäftigt oder auch bedrückt.

Tecker war auch dabei, als sich die Hamburger taz-Initiative gründete, eine von etlichen in der Bundesrepublik: „Wir haben uns ein Jahr lang in Arbeitsgruppen unten am Fischmarkt getroffen, haben hin und her überlegt, was in die Zeitung gehört und was nicht“, erinnert er sich. Waren sie sich etwa uneinig, ob das tägliche Fernsehprogramm berücksichtigt werden sollte. „Hieß das nicht ‚Flimmern und Rauschen‘?“

Sein Studium schloss er mit einer Diplomarbeit ab: „Darmerkrankungen aus ganzheitlicher Sicht“. Er veröffentlichte sie, erst als Buch im Selbstverlag, dann kam es noch mal heraus: im Frankfurter Mabuse-Verlag, ausdrücklich „einer sozialen und humanen Medizin und Pflege verpflichtet“. Es dürfte das erste Buch gewesen sein, dass sich dezidiert an die Betroffenen richtete, die Kranken also – und erst in zweiter Linie an jene, die sie behandelten. Das erste Buch aber auch, das die Chancen, aber auch die Grenzen von Naturheilkunde, körpertherapeutischen Verfahren und des Austausches in Selbsthilfegruppen aufführt, so den Behandlungskanon der klassischen Schulmedizin erweitert – und bis heute erhältlich ist. Tecker gründete eine Familie und schrieb nebenher für eine längst vergessene Stadtteilzeitung namens Große Freiheit, später folgte Der Landbote.

Da hatte er Hamburg den Rücken gekehrt, hatte mit den Seinen das Angebot seiner Mutter angenommen, mit einzuziehen in das große Haus auf dem Land; großer Garten, drumherum viel Ruhe und Weite: Er war wieder da, wo er einst aufgebrochen war, arbeitete als Psychotherapeut, ab 1992 in einer eigenen Praxis.

Dieses Leben ist inzwischen auch schon wieder Vergangenheit. Die Kinder sind aus dem Haus, einen Sohn hat es – nach Hamburg verschlagen. Dass Vater Tecker folgte, hat auch einen ganz handfesten Grund: Seine Frau ist an Demenz erkrankt, und hier in Hamburg kann sie in einer guten, für sie beide passenden Wohngemeinschaft wohnen, wie es sie auf dem Land so nicht gibt. Es sei nicht leicht, sagt Tecker, und zugleich doch gut so, wie es sei.

In aller Ruhe bereitet er gerade seine Praxiseröffnung vor, bietet im Krankenhaus in Hamburg-Rissen offene Gesprächsabende für Menschen mit Darmerkrankungen an, leitet die Kollegengruppe „Psychotherapie bei Darmerkrankungen“. Inzwischen praktiziert er dabei auch die sogenannte Bauchhypnose, ein in Studien als wirksam belegtes Entspannungs- und Imaginationsverfahren – bloß, dass das Wort „Hypnose“ immer noch gewisse Vorbehalte wecke: „Manche denken dabei zuerst an die Showhypnose und wollen nicht vor einem Publikum vorgeführt werden.“ Gelegentlich verbinde sich diese Skepsis auch noch mit ganz grundsätzlichen Vorbehalten: „Bei einem Psychotherapeuten stellen sich viele Menschen immer noch jemanden vor, der einen besser versteht als man sich selbst.“

Tecker lächelt milde. Er hat über die Jahre seiner eigenen Suchbewegungen, seiner Arbeit, nicht zuletzt auch seiner Erkrankung eine solide Gelassenheit entwickelt. „Ich sage immer: Ich bin so ein Wald- und Wiesenpsychologe“, sagt er. Und: „Ich bin ein ganz normaler Mensch.“ Georg Teckers letzter Krankheitsschub liegt inzwischen 25 Jahre zurück.

Mehr Informationen zur Bauchhypnose: www.ced-hamburg.de.

Näheres zur Psychotherapie bei Darmerkrankungen: www.ced-psych.de.

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