Susanne Messmer ärgert sich über die anvisierte Schließung des Fußgängertunnels am Messegelände: Nachnutzung kann so sexy sein
Wer die ehemalige Autostadt Detroit besucht, die nach wie vor ums Überleben kämpft, muss das einstige Filmtheater im Michigan Building besuchen. Es wurde in den 1970er Jahren zum wohl schönsten Parkhaus der Welt umfunktioniert, sodass die geparkten Karren jetzt von verschnörkelten Decken wie im Opernhaus überwölbt werden. Und in der einstigen Hauptstadt des chinesischen Kaiserreichs, der zweitgrößten Stadt Ostchinas, Nanjing, gibt es eine ehemalige Tiefgarage, in der heute die futuristischste Buchhandlung des Landes residiert: Die Librairie Avant-Garde (heißt wirklich so). Ach, Nachnutzung. Du kannst so sexy sein! Schade nur, dass Berlin so wahnsinnig wenig von dir versteht.
Berlin verfügte einmal über zahlreiche Fußgängertunnel in allen Farben des Regenbogens. In letzter Zeit aber verschüttet es immer mehr davon. Zuerst den wunderbaren Tunnel unterm Alex, zuletzt den vorm Bikinihaus in der Budapester Straße. Und nun will es auch noch den Tunnel – oder besser die Fußgängerverteilanlage unter der Kreuzung Messedamm/Masurenallee/Neue Kantstraße – schließen. Der Zeitpunkt ist ungewiss, aber man ist sich offenbar einig, dass die Planungsphilosophien der autogerechten Stadt nicht mehr zeitgemäß sind.
Nicht, dass das nicht stimmt. Diese unübersichtliche Unterführung ist wirklich zum Fürchten. Sie stinkt nach Pisse, die Klos sind geschlossen, die Lüftung und der einst wichtige Zugang zum ICC ebenfalls – und das trotz 345.000 Euro, die die Verkehrsverwaltung jährlich für die Wartung dieses Tunnels springen lassen will. Wegen des Zentralen Omnibusbahnhofs nebenan, heißt es, übernachten dort Menschen oder verticken Drogen. Man hört von so sportlichen wie unerschrockenen Journalistenkollegen im besten Alter, die beim täglichen Fußweg von der Bahn zum Rundfunk Berlin-Brandenburg die Unterführung meiden und lieber die langen Wartezeiten an den Ampeln in Kauf nehmen.
Der Tunnel unterm Messedamm mit den wunderbar orangefarbenen Kacheln wurde bereits von Hollywood entdeckt, man kann ihn in den Filmen „Die Tribute von Panem“ bewundern und in „Captain America“. Nur Berlin kommt nicht darauf, was man in Zeiten von Verdrängung, Clubsterben (siehe Text oben) und Atelierknappheit alles aus so einem Tunnel herausholen könnte.
Oder? Ach, doch! Einer hat es ja wirklich erkannt! Es ist Charlottenburgs Baustadtrat Oliver Schruoffeneger (Grüne). Er spricht sich dafür aus, dass sich im Tunnel vielleicht die sogenannte Jugendkultur ausbreiten sollte. Das Spektrum, meint er, könnte von Skat bis Skaten reichen. Herzlichen Glückwunsch, Herr Schruoffeneger!
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