Ingo Arzt Kapitalozän: Nennt es doch endlich einfach Ausbeutung
Jetzt im Winter ist die U-Bahn übervoll von Menschen, die unter Angestelltenparalyse leiden. Ein Zustand, der sich durch diese Zahnradtage einstellt, an denen sie brav in ihre Computer gestarrt haben, Filterkaffee getrunken haben, Dinge getippt haben (warum auch immer), dann steigen sie in die Bahnen, stieren vor sich hin, schützen sich mit ihren Kopfhörern vor Fremden und freuen sich auf die gestreamte Serie. Alles soll so bleiben, wie es ist. Zwischendurch mal wieder ein Urlaub im Süden.
Gelegentlich steigen Obdachlose ein, entschuldigen sich dafür, nicht mehr zu funktionieren, kaputt zu sein, nicht mehr zu roboten. Almosen. Haben Sie bitte ein paar Cent? Kürzlich gab ich einer Frau, sie war vermutlich in ihren 40ern, zwei Euro. Sie setzte sich und spulte ihre Geschichte ab: angestellt im Marketing, dann lange Krankheit, Job weg, Miete zu hoch, keine Wohnung gefunden, Mietrückstand, Rausschmiss, Straße. Meine Haltestelle kam, ich stieg aus und während die Fenster an mir vorbeiflackerten, fühlte ich mich erst lächerlich, dann ohnmächtig und dann zornig.
Lächerlich, weil ich dachte: Was schreibst du da eigentlich den ganzen Tag für abgehobenes Zeug? Da draußen herrscht immer mehr Elend. In Deutschland steigt die Zahl der Menschen ohne eigene Wohnung unentwegt, 1,2 Millionen werden es 2018 sein. Selbst, wenn man Flüchtlinge abzieht, bleiben über eine halbe Million Menschen, doppelt so viele wie noch 2010. Mehr als 50.000 leben komplett auf der Straße. Ganze Familien werden verdrängt, rausgeschmissen von anonymen, gesichtslosen Investoren. Kafka würde heute über Mieter schreiben.
Ich steh ja auf diese ganze Der-Kapitalismus-ist-schuld-Rhetorik, aber nach dieser Begegnung dachte ich: Vielleicht ist das Denkfaulheit. Ständig auf „das System“ zu schimpfen. Aber nein, das Problem an grundsätzlicher Kritik an den Mechanismen des Kapitalismus ist, dass sie immer richtig ist und deshalb abstumpft. Sie ist richtig, auch wenn sie ohnmächtig wirkt. Auch wenn davon niemand eine Wohnung findet. Es ist wie vor der Klimakatastrophe zu warnen, wie Bilder von Kriegen im Jemen oder Syrien. Wir sind abgehärtet.
Laden Sie sich mal die Ergebnisse der Sondierungsgespräche zwischen Union und SPD runter und suchen Sie nach „Mieten“. Fünf Spiegelstriche. Die Mietpreisbremse soll evaluiert werden. Grundgütiger, das ist aber mal mutig!
Die Fünftage-vorschau
Do., 18. 1.
Martin Reichert
Herbstzeitlos
Fr., 19. 1.
Peter Weissen-burger
Eier
Mo., 22. 1.
Mithu Sanyal
Mithulogie
Di., 23. 1.
Doris Akrap
So nicht
Mi., 24. 1.
Adrian Schulz
Jung und dumm
Do., 25. 1.
Jürn Kruse
Nach Geburt
kolumne@taz.de
Ausbeutung. Schmeißt die Euphemismen weg und nennt es beim Namen: Ausbeutung. Immer mehr Mieter in Deutschland sind in Zwangslagen: Bitte zahlen Sie mehr oder suchen Sie sich was anderes. Ach, es gibt keine bezahlbaren Wohnungen mehr für Sie? Tja. Das wird schon. Sparen Sie eben bei den Lebensmitteln. Bei den Kindern. Oder ziehen Sie weg. Und wenn Sie sich das nicht leisten können, wenn Sie krank werden, dann sehen wir uns in der U-Bahn, zwischen all den Menschen mit Kopfhörern.
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