Stadtgespräch
Felix Lee aus Peking
: Huch, wo bleibt bloß das Gesinde: Ohne die vielen „Einwohner niedriger Qualität“ geht in Peking bald nichts mehr

Die Stimmung ist gereizt. Auf beiden Seiten. Der Kunde beschwert sich, dass er schon mehrere Tage auf das Päckchen gewartet habe und die Ware nun wahrscheinlich verdorben ist. Der junge Mann vom Lieferdienst beklagt sich, er komme den vielen Aufträgen nicht mehr hinterher. „Wir sind nur noch wenige“, jammert er und fügt hinzu: „In den nächsten Wochen könnte es noch schlimmer werden.“

Arbeitskräftemangel gibt es in der chinesischen Hauptstadt derzeit nicht nur beim Lieferdienst, sondern auch unter den Putzkräften, in der Gastronomie, auf den Baustellen – selbst auf dem berühmten Pekinger Sanyuanli-Markt sind seit einigen Wochen Stände verweist. Der Grund: Wanderarbeiterinnen und Wanderarbeiter, die diese Aufgaben übernommen haben, bleiben weg.

Denn Pekings Stadtverwaltung hat ihre Unterkünfte abgerissen. Bereits im vergangenen Frühjahr hatte die Regierung begonnen, ihre Läden und Restaurants abzureißen. Seit November fallen die Abrisskolonnen über die Wohngebäude her, in denen sie hausten, und vertreiben die Bewohner – trotz eisiger Minustemperaturen.

Anlass war ein Brand in einer der Behausungen von Wanderarbeitern Mitte November mit 19 Toten. Offiziell heißt es: Die Unterkünfte würden den Brandschutzbestimmungen nicht entsprechen. Nur: Daran hatte sich mehrere Jahrzehnte niemand gestört. Der örtliche Parteichef Cai Qi sprach denn auch unverhohlen von „Einwohnern niedriger Qualität“, die Peking nicht mehr haben wolle. Die Zustände seien den Ansprüchen einer modernen chinesischen Stadt nicht würdig. Die Botschaft ist eindeutig: Ungelernte Wanderarbeiter ohne offizielles Aufenthaltsrecht sind in Peking nicht mehr erwünscht.

Seitdem haben Zehntausende von Wanderarbeitern die chinesische Hauptstadt verlassen. Noch mehr könnten in den kommenden Wochen folgen. Noch harren viele der Vertriebenen bei Bekannten oder Verwandten in Peking aus, in der Hoffnung, doch noch eine eigene Bleibe zu finden. Doch reguläre Unterkünfte auf dem freien Wohnungsmarkt sind für die meisten Wanderarbeiter zu teuer. Zum tradi­tionellen chinesischen Neujahrsfest – in diesem Jahr Mitte Februar – fahren die meisten von ihnen in ihre Heimat aufs Land. Wenn sie bis dahin nichts gefunden haben, werden sie nicht nach Peking zurückkehren. Gerade junge Wanderarbeiter versuchen bereits in anderen Städten ihr Glück.

Das wird drastische Auswirkungen auf den Niedriglohnsektor in Peking haben. Schon jetzt fehlen überall Angestellte. Lieferdienste haben nicht genug Fahrer und sitzen auf Bergen nicht zugestellter Pakete. An Restaurants kleben Zettel: „Kellner dringend gesucht!“ Reinigungskräfte, Bauarbeiter, Nachtwächter, Nudelköche – überall melden die Arbeitgeber fehlendes Personal.

Kein Wunder, dass die Kritik auch unter alteingesessenen Pekingern für chinesische Verhältnisse ungewöhnlich heftig ausfällt. „Wie kann man nur so rücksichtslos sein“, schreibt ein Nutzer auf dem chinesischen Twitter-Pendant Weixin. „Wir wollen unsere Putzfrauen und Lieferdienste zurück“, schreibt ein anderer. Als „Verstoß ­gegen die Menschenrechte“ hatten im Dezember rund hundert Intellektuelle die Räumungskampagne der Pekinger Stadtverwaltung in einem offenen Brief bezeichnet. Selbst die Staatsmedien kritisieren die Stadtverwaltung für ihr rabiates Vorgehen – wenn auch nur moderat: Es fehlten Übergangsfristen, stellten sie fest.

Doch es finden sich auch gegenteilige Stimmen. „Die Stadt platzt aus allen Nähten“, rechtfertigt Geschäftsbetreiber Cheng Jinhua das Vorgehen der Behörden. Cheng betreibt einen Laden für Kleinelektronik im gentrifizierten Maizidian im Nordosten der Stadt. Er sitzt gelangweilt in seinem Laden. Angestellte habe er seit geraumer Zeit keine mehr. „Zu teuer“, sagt er. Billig seien die Wanderarbeiter schon seit Jahren nicht mehr. Und 25 Millionen Einwohner seien 5 Millionen zu viel, findet er.

Im nächsten Moment ruft er nach seiner Frau, die hinten im Laden sitzt und in ihr Smartphone vertieft ist. „Wo bleibt mein Mittagessen?“, fragt er. Ohne aufzuschauen, antwortet sie: „Lieferengpässe. Kein Personal.“