: Das Schulbuch der Zukunft
Für Kinder und Jugendliche gehören Smartphones und Tablets längst zum Alltag – privat. In der Schule hingegen lernen sie noch immer vor allem mit den klassischen Hilfsmitteln: gedruckten Schulbüchern. Digitale Impulse halten nur zögerlich Einzug in die Klassenzimmer
Von Birk Grüling
Die Ära von mit Kreide bemalten Tafeln geht zu Ende: In vielen Schulen wurden sie durch interaktive „Whiteboards“ ersetzt. Mit ihnen können die Pädagogen digitale Inhalte wie Lernvideos oder interaktive Übungen in den Unterricht einbinden. Auch die Vernetzung mit Tablets, Laptops oder Messgeräten fällt leichter. Eine andere analoge Bastion bröckelt dagegen nur langsam – das gedruckte Schulbuch. Noch immer liegt seine Haltbarkeit bei mehreren Jahren. Nur Übungshefte oder das Material für das Zentralabitur werden häufiger aktualisiert.
Ein wichtiger Grund dafür ist eine Besonderheit des deutschen Schulbuchmarktes: Neue Bücher müssen von den meisten Schul- und Kultusministerien aufwendig zugelassen werden. Eine Folge: Etwa bei Mode oder Alltagsthemen scheint irgendwie die Zeit stehen geblieben zu sein. Für aktuelle Themen wie den Brexit oder die US-Präsidentschaft von Donald Trump müssen die Lehrer eigene Materialien erstellen.
Immerhin haben auch die Verlage inzwischen digitale Medien für sich entdeckt und eigene Lernplattformen entwickelt. „Viele gedruckte Schulbücher werden den Pädagogen zusätzlich als E-Book zu Verfügung gestellt und durch digitale Materialien wie Video-Clips oder interaktive Übungen ergänzt“, erklärt Felicitas Macgilchrist. Sie ist Leiterin der Abteilung „Schulbuch als Medium“ am Leibniz Institut für internationale Schulbuchforschung in Braunschweig und Professorin für Medienforschung an der Georg-August-Universität Göttingen.
Gerade junge Lehrer nutzen die neuen Möglichkeiten gern. Im Deutschunterricht bekommen die Schüler so den Text direkt von der Autorin vorgelesen. In Politik und Geschichte sehen sie die Originalszenen eines historischen Ereignisses als Filmausschnitte und in Physik werden die Ergebnisse der Experimente in Echtzeit ausgewertet. Einziger Haken: Die Materialien stammen von den oft behäbigen Verlagen. Bis passende Unterrichtsvorschläge zu aktuellen Themen zur Verfügung stehen, vergeht oft viel Zeit. Auch eine eigene Weiterentwicklung, Ergänzung und Bearbeitung des Materials ist aufgrund des strengen Urheberrechts oft nur begrenzt möglich.
Genau deshalb wächst das Interesse an „Open Educational Resources“ (OER): Diese Unterrichtsmaterialien und Schulbücher werden meistens von Pädagogen an Schulen oder Universitäten entwickelt, die bewusst auf ihre Urheberrechte verzichten. Dadurch stehen die Materialien für jedermann frei und kostenlos zur Verfügung und dürfen vervielfältigt, verändert oder mit anderen Medien kombiniert werden. Das schafft nicht nur mehr Vielfalt für die Lehrer, sondern auch zusätzliche Bildungsgerechtigkeit. Fehler können so leichter korrigiert werden und neue Debatten zum Beispiel zu deutscher Asyl-Politik oder Terrorismus zeitgemäßer aufgegriffen werden.
„In Deutschland steckt diese Entwicklung noch in den Kinderschuhen. In Skandinavien oder in den USA ist da man schon deutlich weiter“, erklärt Macgilchrist. Zwar gibt es auch hierzulande schon Portale wie www.4teachers.de, die sich auf den Austausch von Lehrkräften untereinander spezialisiert haben. Von einer staatlichen Förderung der OER-Materialien wie in Norwegen ist man in Deutschland aber noch weit entfernt. Dort werden Pilotprojekte für OER-Bücher öffentlich ausgeschrieben und ihre Entwicklung finanziell unterstützt. So haben auch die Schulbuchverlage ein Anreiz daran, neue urheberrechtsfreie und hochwertige Materialien zu entwickeln. Das Land investiert bereits 20 Prozent der Ausgaben für Schulbücher in die Vorfinanzierung von OER-Schulbüchern.
Die Demokratisierung der Schulbuchentwicklung ist aber nicht der einzige Trend. Auch die technischen Möglichkeiten der Schulbücher könnten sich in den nächsten Jahrzehnten deutlich weiterentwickeln. Ein Ziel: Intelligente Schulbücher, die besser auf die Bedürfnisse der Schüler eingehen und so die Lehrer bei ihrer Arbeit unterstützen.
Auf der letztjährigen Computermesse Cebit in Hannover stellten Forscher des Deutschen Forschungszentrums für Künstliche Intelligenz ein solch smartes Schulbuch vor. „Das Besondere hierbei ist, dass das Buch die Stärken und Schwächen der Schülerinnen und Schüler mithilfe integrierter Sensoren frühzeitig erkennt“, sagt Professor Jochen Kuhn, der daran forscht, moderne Medien wie Tablets und Datenbrillen im Physikunterricht zu nutzen. Die dafür nötige Technik ist vergleichsweise einfach. Das Schulbuch wird auf einem Tablet gelesen. Ein sogenannter Eye-Tracker unter dem Bildschirm analysiert die Blicke der Schüler, zusätzlich misst eine Infrarot-Kamera die Temperatur der Gesichter. Starrt ein Kind zum Beispiel besonders lange auf eine Aufgabe, so braucht es vermutlich zusätzliche Hilfestellung durch den Lehrer.
Einen ähnlichen Ansatz verfolgen auch Forscher der Bremer: Jacobs University. Das Team um den Psychologen Arvid Kappas verknüpfte einen digitalen Atlas mit einem kleinen Roboter. Diesem – wie auch einem Tablet-Computer – sitzen die Schüler nun im Erdkundeunterricht gegenüber. Gemeinsam mit dem Roboter machen sie sich auf eine virtuelle Schatzsuche und lernen so spielerisch das Kartenlesen. Die Besonderheit: Der Roboter soll auf die Reaktionen der Schüler eingehen, also auf Bewegungen der Augenbrauen, die Stimmlage oder zögerlichen Antworten. Und er soll mit Gesten und Worten zum Lernen motivieren
Felicitas Macgilchrist, Schulbuchforscherin in Braunschweig und Professorin für Medienforschung in Göttingen
Bei den Schulversuchen im Rahmen des 2016 zu Ende gegangenen EU-Projekts „Emote“ klappte dieser Ansatz gut: Die Kinder reagierten positiv auf die Roboter und hatten Freude an den interaktiven Aufgaben auf dem Tablet. LehrerInnen ersetzen will keins der Projekte. Es geht eher ein neues Handwerkszeug für die Pädagogen.
Natürlich gibt es auch Kritik der zunehmenden Digitalisierung der Bildungsmedien. Gerade betagte Pädagoge wie Josef Kraus, pensionierter Schulleiter und Präsidenten des Lehrerverbands oder der umstrittene Hirnforscher Manfred Spitzer vertreten öffentlichkeitswirksam die Meinung „Digitale Geräte gehörten nicht in die Schule“. Ihre Hauptargumente: Das Computer und das Internet machen die Jugend dumm und ihr Gehirn denkfaul. Auch vor Internetsucht und ADHS wird gewarnt.
Macgilchrist teilt diese Kritik nicht. Sie sieht digitale Schulmedien vielmehr als Chance für die Kinder und Jugendlichen. Schließlich starren die Schüler im Unterricht nicht stundenlang untätig auf den Bildschirm oder verdaddeln sinnlos ihre Zeit. „Im Unterricht können die Schüler lernen, digitale Medien aktiv und produktiv zu nutzen. Das ist eine ganz andere Qualität als der reine Konsum“, sagt die Braunschweiger Schulbuchforscherin. Wenn ein Schüler lernt, wie digitale Inhalte entstehen und das Internet aktiv für den Wissenserwerb nutzt, ist das ein großer Gewinn für die eigene Medienkompetenz.
Doch genau dafür braucht es nicht nur gute, digitale Inhalte, sondern auch Pädagogen, die Lust haben, die neuen Medien im Unterricht zu nutzen.
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