stadtprotokoll: „Mein Haus steht hier“
„Ich bin in Casablanca geboren und aufgewachsen. Aber mir war immer klar, dass ich Marokko verlassen muss, um etwas zu erreichen. Mit 18 oder 19 Jahren bin ich nach Deutschland gegangen.
Zwei meiner Geschwister lebten in Frankreich, ein Bruder in Italien. Meine eigene Herausforderung war Deutschland. Jeder weiß, dass es das beste Land ist – nicht nur in Europa, sondern weltweit!
Am Anfang habe ich in Frankfurt am Main in einem Restaurant gearbeitet. Mit einem befreundeten Koch bin ich dann zum ersten Mal nach Leipzig gefahren. Seine Frau kam aus Schkeuditz. Es war die Zeit kurz nach der Wende und sie wollte ihre Familie wiedersehen. Abends sind wir dort zusammen in eine Disko gegangen – für mich eine Premiere. Dort bin ich meiner heutigen Frau begegnet.
Sie ist mir für kurze Zeit nach Frankfurt gefolgt. Aber ihr fehlten ihre Familie und ihre Freunde. Ich hatte zwar Freunde und Arbeit in Frankfurt, aber meine Frau war nach einem Monat wieder in Leipzig. Da stand für mich fest, ich ziehe hierher.
Der Anfang war nicht leicht. In Casablanca bekommst du überall und zu jeder Zeit Essen und Trinken. Darum musst du dir niemals Gedanken machen. In Leipzig gab es Anfang der 1990er Jahre nichts. Lediglich ein paar Tankstellen hatten auch am Wochenende geöffnet. Außer Bier und Zigaretten bekam man dort höchstens eine Tüte mit Brötchen.
Dass mir das Ankommen trotzdem nicht schwergefallen ist, liegt an meiner Frau. Ich bin ein Familienmensch. In ihr habe ich diese Familie gleich gefunden. Das war für mich das Wichtigste. Das und meine Arbeit.
Ich bin gelernter Möbeltischler und habe die ersten Jahre in einer Zimmerei in Eutritzsch gearbeitet. Das was ich jetzt mache, die Arbeit als Gastronom und Fleischer, ist meine Leidenschaft. Und familiäres Erbe: Schon mein Vater und Großvater waren Fleischer.
Meine Frau und ich haben auf der Karl-Heine-Straße mit einem Bistro angefangen und uns Stück für Stück vergrößert. Heute führen wir zusammen ein Restaurant und den Feinkostladen mit Fleischerei.
Rückblickend glaube ich: Du musst die Leute und den Ort, an dem du bist, lieben. Sonst kommst du niemals richtig an. Viele, die aus dem Ausland kommen, hoffen darauf, irgendwann zurückzukehren. Sie sparen so viel Geld wie möglich und bauen sich in der alten Heimat ein Haus.
Ich habe es anders gemacht: Mein Haus steht hier. Wenn ich nach Marokko will, miete ich mir für einen Monat eine möblierte Wohnung. Das mache ich alle fünf oder sechs Jahre. Mittlerweile lebe ich länger in Leipzig als in Marokko!“ aufgezeichnet von Nadja Mitzkat
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