Schriftsteller Giwi Margwelaschwili: Ein Junge, der Spielkameraden ersann
Giwi Margwelaschwili wird 90 – eine gute Gelegenheit, sich mit dem deutsch-georgischen Schriftsteller und Philosophen zu beschäftigen.
![Giwi Margwelaschwili an einem Schreibtisch mit Bücherstapel Giwi Margwelaschwili an einem Schreibtisch mit Bücherstapel](https://taz.de/picture/2442195/14/georgia.jpeg)
In Giwi Margwelaschwilis Stimme kann man das Deutsch der zwanziger Jahre hören. Sein Tonfall, sein Lachen, sein in die Konversation eingestreutes „Sehen Sie, mein lieber Herr“ – all das kommt mit verblüffender Zeitgenossenschaft aus einem weltläufigeren, eleganteren, eloquenteren Jahrhundert und aus einem Berlin, in dem Walter Benjamin, Samuel Fischer und Kurt Tucholsky noch leben. Seine Wohnung in Tbilissi liegt in einem mit hohen Bäumen bestandenen Innenhof hinter einem der großen Boulevards der georgischen Hauptstadt.
Meine Gespräche mit ihm in den beiden kleinen, dunklen Räumen voller Bücher, Zeitschriften und Papierstapel, wo ich ihn während meiner georgischen Jahre alle paar Monate besuchte, pflegten sich derart anregend (und meistens sogar aufregend) zu gestalten, dass ich mir angewöhnt hatte, nach der Bewirtung in seiner kleinen Küche (Rotwein, gegrilltes Huhn, georgische Vorspeisen und Fladenbrot) mit meinem Tagebuch sofort ins Bistro „Tartine“ im Vorderhaus einzukehren, um mir in aller Eile zu notieren, was mir von seinen Monologen und meinen assistierenden Einwürfen noch in Erinnerung war.
Ich habe noch nie jemanden getroffen, für den Ideen, Bücher und philosophische Probleme so geradezu physisch gegenwärtig sind wie für Giwi Margwelaschwili.
Er kann über den ontologischen Unterschied der Modalkategorien Notwendigkeit und Möglichkeit mit derselben Beiläufigkeit und Selbstverständlichkeit reden wie andere Leute über die Beziehungsprobleme eines befreundeten Ehepaars. Aber auch seine sehr dezidierten Urteile über die politischen Verhältnisse Georgiens und über die Zeitgeschichte allgemein sind in einer Weise und einer Plausibilität aus philosophischen Einsichten abgeleitet, wie ich es bis zu meinen Gesprächen mit ihm niemals gehört habe. So zum Beispiel seine Unterscheidung des Kapitalismus als einer ontologischen Sphäre vom Kommunismus/Sozialismus als einer logischen.
Sein Vater wurde ermordet
So etwas äußert er in dem coolen Ton eines Manns, der über gewisse Dinge ein Leben lang erfolgreich nachgedacht hat. Man kann die Schneisen, die er im Plauderton solcherart in die Diskurse der Gegenwart legt, eigentlich nie vergessen und seine Unterscheidungen gehen unbemerkt und wie selbstverständlich in das eigene Denken ein.
Und unvergesslich ist mir auch das so gelassene wie atemberaubende Selbstbewusstsein des gebrechlichen alten Herren, der mir an einem dieser denkwürdigen Spätnachmittage in einem dunklen Hinterhof in einem fremden Land kühl darlegte, welche von Heidegger in „Sein und Zeit“ nicht bearbeiteten Probleme er, Giwi Margwelaschwili, inzwischen abschließend geklärt habe.
Es ist deshalb nicht zum Erstaunen, dass Margwelaschwilis großes literarisches Thema die Lebendigkeit und Wirklichkeit in Literatur vorkommender Personen ist. Für ihn sind Ideen und literarische Figuren eben tatsächlich lebendige Gegenwart. Die Theorie der „Buchpersonen“ ist seine Form des Naturalismus. Ich glaube, das liegt daran, dass ihm lebenslang Philosophie und Literatur auch menschlich näher waren als die konkreten sozialen Milieus, in die es ihn im Verlauf des letzten Jahrhunderts gewaltsam verschlagen hat.
Der noch nicht zwanzigjährige antinazistische Dandy wurde 1945 aus dem zerstörten Berlin in das vom NKWD kommunistisch umgewidmete KZ Sachsenhausen verschleppt und von Ostberlin aus dann in die Sowjetrepublik Georgien, wo sein Vater, ein patriotischer georgischer Exil-Intellektueller, gefoltert und schließlich ermordet worden ist. Als wissenschaftlicher Mitarbeiter der dortigen Akademie der Wissenschaften hatte er jahrzehntelang nicht viel mehr zu tun, als pro Jahr einen philosophischen Aufsatz zu veröffentlichen.
Im Kreis imaginärer Spielkameraden
Während er außerdem für die Schublade sein (editorisch noch bei Weitem nicht vollständig erschlossenes) literarisches Riesenwerk verfasste, hat er sich – so enge georgische Freunde und Freundinnen er trotzdem natürlich immer hatte – insgeheim zugleich immer in einem Kreis imaginärer Spielkameraden bewegt – im Zauberkreis sehr deutscher Ideen und Buchpersonen.
Seine einmalige, originelle und hochseltsame Schreibart, die eine forcierte Kindlichkeit mit philosophischer Hyperintellektualität gelungen kombiniert, ist einerseits eine Schutzhaltung gegenüber der bis zuletzt sehr gefährlichen Sowjetzensur gewesen. Sie hatte aber auch etwas von der Lebens- und Denkweise eines sehr intelligenten und sehr einsamen kleinen Jungen.
Der jetzt 90 Jahre alt wird. Während meiner georgischen Jahre bin ich mit vielen Goethe-Besuchern in den baumbestandenen Hinterhof gepilgert: mit Navid Kermani, mit Lothar Müller, mit Ulrich von Bülow vom Literaturarchiv Marbach, mit meinem Freund Matthias Klingenberg vom DVV International (dem Erfinder des „Giwi-Margwelaschwili-Kulturpreises“) mit seinen Verlegern Jörg Sundermeier und Kristine Listau, mit Ekke Maass, mit Dirk Knipphals und Viola Noll – und mit vielen anderen, die mir jetzt gerade nicht einfallen.
Wir alle wurden bewirtet, wir alle wurden mit erstaunlichen Ideen und Büchern konfrontiert und lauschten verblüfft und inspiriert jenem Sound der schnellen, hedonistischen, kultivierten Berliner Zwanziger Jahre, der aus den Tiefen des letzten Jahrhunderts in unsere Gegenwart drang. Ich denke, dass ich im Sinn von uns allen spreche, wenn ich mein imaginäres Gratulationsbukett hiermit überreiche mit den Worten: „Herzlichen Glückwunsch, Vivat, Danke und ad multos annos, verehrter Meister Giwi Margwelaschwili!“
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Macrons Krisengipfel
Und Trump lacht sich eins
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
USA und Russland besetzen ihre Botschaften wieder regulär
Maßnahmenkatalog vor der Bundestagswahl
Grünen-Spitze will „Bildungswende“
Frieden in der Ukraine
Europa ist falsch aufgestellt
Die Neuen in der Linkspartei
Jung, links und entschlossen
Gentrifizierung in Großstädten
Meckern auf hohem Niveau