Büro-Bowie träumt von Berlin

Saint Etienne ist eine britische Band, die sich den Psychogeografien der Städte widmet, und singt über einen alternativen Bowie im Vorortzug. Ihr einziges Deutschlandkonzert fand im Columbiatheater statt

Von Stephanie Grimm

Welch Schande! Saint Etienne spielen ihr einziges Deutschlandkonzert und das Colum­biatheater ist allenfalls locker gefüllt. Scheinbar ist der Appeal dieses durch und durch englischen Trios, das Sixties-Soul mit Nineties-Rave zusammenbringt, tatsächlich ein bisschen „lost in translation“. Im Publikum wird jedenfalls viel Englisch gesprochen, der Empfang, den man der Band bereitet, ist extraherzlich, als wolle man sich für den zu leeren Raum entschuldigen.

Von Anfang an schwirrt reichlich Liebe im Raum umher – und viel queere Energie. Hatte man gar nicht auf dem Schirm, dass Sarah Cracknell, Federboa, schwarze Glitzerjacke, herausgeputzt wie für die Weihnachtsfeier im Büro, auch schwule Ikone ist. Bandkollege Bob Stanley ist heute nicht dabei, der Dritte im Bunde, Pete Wiggs, fühlt den Nerd-Posten aber auch alleine aus. Zur Unterstützung stehen fünf weitere Musiker auf der Bühne, die über die nächsten 90 Minuten das Publikum sehr glücklich machen werden, mit Querflöten, einem progrockigen Synthie-Solo und was ihnen noch so einfällt.

Saint Etienne präsentieren einen hitlastigen Querschnitt durch ihre 27 Jahre währende Bandgeschichte. Ihr Programm ist Pop in reinster Form: Songs, die in ihrer Zugänglichkeit uneitel daherkommen und doch eine Meta-Ebene haben, ähnlich wie bei den Pet Shop Boys. Ihr Überbau ist eine Pop- und Alltagssoziologie, fest in der englischen Lebenswelt verankert und immer freundlich zu ihrem Betrachtungsgegenstand.

Auf dem Weg ins Büro

Jedes Album hat ein Thema, oft ist die Klammer eine geografische: Auf „Tales from Turnpike House“ (2005) gingen sie dem Leben in einem Nordlondoner Council Block nach, auf dem aktuellem Album „Home Counties“ widmen sie sich dem Speckgürtel um die Stadt, den Vorstädten, aus denen das Trio stammt und von wo aus es sie vor 30 Jahren in die Großstadt zog. Heute blicken sie zurück und sehen auch Gutes. Wie das eben so ist beim Älterwerden.

Erklärende Ansagen gibt es kaum, das Publikum kennt den Kontext auch so. Im Song „Whyte­leafe“ vom neuen Album geht es darum, welches Leben David Bowie wohl gelebt hätte, wäre er nicht Popstar geworden. Saint Etienne verorten ihn im Schienenersatzverkehr im titelgebenden Ort in Surrey, auf dem Weg zum Bürojob und vor sich hin sinnierend. Allerdings sind die textlichen Hinweise auf Bowie so subtil, dass man Interviews mit der Band gelesen haben muss, um den Hintergrund zu kennen. Das Publikum ist trotzdem am Jauchzen, noch bevor Cracknell zur Zeile „The Berlin of the 70’s“ ansetzt. Davon träumt der Büro-Bowie nämlich.

Ihren psychogeografischen Ansatz setzen Saint Etienne nicht nur in Konzeptalben um, sondern auch in essayistischen Filmen, etwa über die Ecken Ostlondons, die für den olympischen Park plattgemacht wurden. Kaum verwunderlich also, dass leicht patinöse Bilder auch für ihre Bühnenshow zentral sind, sie schaffen eine im positiven Sinne sentimentale Grundierung. Hier wirken sogar die tristen Sozialbauten heimelig.

Später erklärt ein Mann an der Bar, dass Saint Etienne ein Bild von England zeichnen, wie man es sich als popsozialisierter Mensch zwar wünscht, das aber derzeit doch weit weg von der Realität scheint. „Den Brexit hat diese Band sicher nicht gewollt“, sagt er. Nein, bestimmt nicht, und auch knapp anderthalb Jahre später ist der Text lesenswert, den Bob Stanley (neben seiner Popkarriere ist er Autor) zum Thema Brexit und Popmusik („Ein Beispiel britischer Selbstüberschätzung“) für die FAZ geschrieben hat.

Am Merch-Stand lässt sich derweil beobachten, dass die Band das Cover-Design von „Home Counties“, das T-Shirts ziert, um ein handtellergroßes Logo „Made in The EU“ ergänzt hat. Man hat es gerade wirklich nicht leicht, wenn man England mögen will. Aber zum Glück helfen Saint Etienne dabei.