Jens Uthoff Ausgehen & Rumstehen: Es gibt Grau, Camouflage-Laub und Korkenziehermatte
Der Berliner Herbst dringt in meine Nase, als ich am Freitag auf dem Weg zur Arbeit über den Zickenplatz radle, vorbei an einer Alkoholikergruppe, die im Sonnenschein beieinandersitzt, vorbei an schlaftrunkenen Gestalten, die zum Teil ohne Bedacht durch die Gegend wandeln. Der Berliner Herbst riecht gut. Klare Luft. Gar nicht so, als würde etwas abfallen und vergehen. Eher würzig, als würde etwas reifen wie guter Whisky. Am Abend gibt es Wein statt Whisky. Ich schaue in meinem Stammlokal vorbei, trinke Tempranillo, lese in dort herumliegenden Zeitungen und schaue aufs Kaminfeuer. Ich entscheide mich für früh ins Bett und gegen eine Party, das Wochenende hält zwei Konzertabende bereit. Ich muss mit meinen Kräften haushalten.
Am Samstag entwickelt sich der Berliner Herbst dann so, wie man ihn kennt. Während ich durch den Treptower Park und den Plänterwald jogge, ist der Himmel zwischen Aschgrau, Mausgrau, Staubgrau und Steingrau, um mit Loriot zu sprechen. Das Farbspiel der Blätter ist großartig, der Boden im Plänterwald sieht kastanienbraun-gelb-camouflagig aus, keine Sau ist unterwegs. An der Spree liefere ich mir ein kleines Rennen mit einem Ruderachter, ich staune, dass die so viel höheren Aufwand betreiben, um etwa gleich schnell voranzukommen. Dafür sieht die Fortbewegung bei ihnen eleganter aus.
Am Samstagabend dürften sie dann wieder Festland erreicht haben. Wie es diese Überleitung so will, gibt das Folk-Perkussion-Minimal-Trio Festland ein Wohnzimmerkonzert in Prenzlauer Berg – beziehungsweise eine öffentliche Probe, bei Bandmitglied Thomas Geier. Als M. und ich dort gegen kurz nach sechs ankommen, fläzt sich das Publikum von zehn Leuten schon auf Couch und Fußboden, während die Probe mit Kontrabass, Glockenspiel, Becken, Geige und viel Gesang bereits im Gange ist. Star des Abends ist der Band-Nachwuchs – ein kleiner Junge, der zwischen den Instrumenten herumwirbelt und viele Minibrezeln verspeist, ansonsten gelegentlich tanzt. Festland spielen „Fernsehturm“, „Gespenster“ und „Leuchttürme“. Manches sogar zweimal, wenn sie unzufrieden sind. „War das zu langsam?“, fragen sie ins Publikum.
Danach geht es zum gemeinsamen Pizzaessen ins „I Due Forni“. Es ist laut, chaotisch und eng bei Wein, Prosecco und Bier. Und noch später gibt es Hope. Hope, ein Quartett aus Berlin, feiert am Abend eine Plattentaufe im Acud. Der kleine Club in Mitte ist der richtige Ort für den Sound von Hope: sphärisch, dark, eindringlich. Die Musik ist um die starke Stimme von Sängerin Christine Börsch-Supan gebaut, die Instrumente – Synthesizer, Schlagzeug, Gitarre – sind aufs Wesentliche reduziert. „It’s been a long time since I’ve touched you / It’s been a long time since we’ve touched“, singt Börsch-Supan in „Raw“, alles ist maximal konzentriert auf diesen Moment des Refrains, sowieso ist alles maximal konzentriert auf diesen etwa einstündigen, beeindruckenden Auftritt. Es gibt Applaus. Viel Applaus. Wir fahren trunken nach Hause.
Rund 20 Stunden später steht noch ein Konzert auf dem Programm. Da ich die US-Metal-Noise-Sludge-Veteranen Melvins noch nie live gesehen habe, muss ich das am Sonntagabend in den Festsaal nachholen. Auch dort ist es proppevoll, viele ältere Metalheads sind zugegen. Sänger Buzz Osborne mit charakteristischer Korkenzieherhaarmatte und Schlagzeuger Dale Crover harmonieren glänzend, Bassist Steven Shane McDonald weiß zwischenzeitlich mit Waschmaschinen-Headbanging zu überzeugen. „The Bit“ und das Beatles-Cover „I wanna hold your hand“ sind meine Highlights. Nach gut einer Stunde aber ist’s schon vorbei, was zum Teil sogar Buhrufe nach sich zieht. Durch den Schlesischen Busch hindurch geht’s mit dem Rad um elf Uhr nach Hause.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen