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Licht, das dir den Verstand raubt

Das schönste Licht der Welt leuchtet in Südeuropa vom Himmel, meint unsere Autorin. Trotzdem hocken die Leute dort gern unter Neonlicht. Warum bloß?

Auch irgendwie ernüchternd: Neonlicht Foto: E. Lhomelet/getty images

Von Doris Akrap

Wenn man aus dem Süden Europas zurück nach Deutschland kommt, insbesondere in den Nordosten, hat man das Gefühl, dass jemand die Welt zu heiß gewaschen hat und sich alle Farben aufgelöst haben. Himmel, Häuser, Bäume, Luft, alles erscheint blass und grautönig, wie ein stumpfes Handyfoto mit extremer Pixelschwäche. Das Licht im Nordosten hat den Charme einer Neonröhre, während das des Südens der wärmenden Intensität einer brennenden Kerze ähnelt, von deren schönem Schein sich jedes Auge verführen lässt.

Und doch sitzt man im Süden gerne unter dem weißen Licht von Neonröhren. Ob auf dem Balkan, in der Türkei, in Spanien, Italien oder Ägypten – man hängt sich dort in Kneipen, Imbissen oder Eiscafés gern die nackte Röhre schief an die Wand, die Decke oder an die Seite des Getränkeregals. Das weiße Licht erinnert an Operationssäle in Krankenhäusern, an Werkstattgaragen oder Autobahngrenzübergänge. Orte also, an denen jeder dunkle Fleck eine potenzielle Gefahrenquelle ist.

Auch in Parks werden des Abends im Süden oft Büsche, Bänke oder Denkmäler von extrem weißem Licht angestrahlt, was eher abschreckend als einladend wirkt, die Flaneure und Pärchen aber nicht davon abhält, sich darunter zu tummeln. Zudem findet sich in den Städten des Südens oft ein gelblich bis orangenes Licht, das von den Straßenlaternen verströmt wird, die zu beiden Seiten großer Straßen dem Besucher den Weg ins Zentrum weisen, während man in den Städten im Norden von Flutlichttrassen empfangen wird.

Tavla oder Okey in den Männerteestuben

Man findet die Neonröhre selbstverständlich auch an geselligen Orten in Deutschland. In den türkischen Männerteestuben, in denen unter der Neonröhre Tavla oder Okey gespielt wird, während an den Wänden türkisches Fernsehen läuft, zum Beispiel. In den 80er und 90er Jahren fand sich allerdings auch viel Neonröhre in grellen Farben wie Pink oder Hellblau in nichttürkischen Bars mit künstlichen Palmen und Sand auf dem Boden, in denen Banane-Weizen und Cocktails mit Blue Curaçao angeboten wurden. Diese Art der Einrichtung gehört aber glücklicherweise der Vergangenheit an.

Warum man sich ausgerechnet dort, wo es das schönste Licht der Welt gibt, so gern im gleißenden Scheinwerferlicht der Neonröhre sehen lässt, ist eine offene Frage. Aber wahrscheinlich ist es so wie mit allem, von dem man zu viel hat: Während der Tourist am Mittelmeer sofort in jedes Wasser springt, was sich vor ihm ausbreitet, wartet der Einheimische so lange, bis die Touristen wieder weg sind, und beschließt dann, dass er ja auch noch nächsten Sommer baden gehen kann.

Wer also ständig dieses die Sinne betörende Licht im Süden um sich hat, hofft vielleicht unter der kalten Neonröhre einfach ein wenig klarer sehen zu können. Zu viel von diesem intensiven Tageslicht im Süden kann einen auf Dauer schon um den Verstand bringen. Ein Abend unter der Neonröhre ist da wohltuend ernüchternd.

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