Annabelle Hirsch
Air de Paris
: Verpfeif dein Schwein oder der Verdacht, wer keinen Namen nennt, ist selbst wohl eines

Foto: privat

Eigentlich wollte ich in diesem Monat von den Streiks berichten, die Paris in den letzten Wochen regelmäßig lahmlegten. Ich wollte mich ganz laut darüber empören, dass sie mich mit ihren alles blockierenden Plakaten, ihren Rauchbomben und ihrem Geschrei daran hindern zu arbeiten. Und ich wollte mich ein bisschen zynisch fragen, ob sie das, also die Realität anderer Menschen, überhaupt interessiert, oder ob es nicht einfach zu gemütlich sei, sich so ein bisschen abstrakt und kollektiv zu empören.

All das und viel mehr wollte ich mich fragen, doch dann kam Harvey Weinstein mit seiner ganzen Unappetitlichkeit daher und plötzlich war etwas anderes viel interessanter, nämlich die französische Antwort auf #metoo: Kurz nachdem Alyssa Milano ihren Hashtag lanciert hatte, rief eine französische Journalistin mit #balancetonporc dazu auf, sein, wörtlich: Schwein zu verpfeifen.

Knapp 50.000 Stimmen haben bisher auf diesen Ruf geantwortet, manche ganz konkret: Mit Namen und Anschuldigung. Nicht in einem Polizeipräsidium, sondern im Netz. Wie sinnvoll das ist, wäre zumindest diskutabel, interessant ist aber vor allem, dass andere, die in ihrer Beschreibung eines „Chefredakteurs“ eher vage bleiben, sich – auch hier! – mit zunehmend penetranten, ja sogar beschimpfenden Kommentaren dazu aufgerufen sehen, endlich zu denunzieren. Es ist absurd. Da stellt sich eine hin und erklärt, man habe sie zu etwas zwingen wollen, dass sie nicht wollte, und schon kommt die nächste Gruppe und tut genau das Gleiche.

Die Einschüchterungs- und Erniedrigungsmechanismen sind da übrigens sehr ähnlich: Wenn sie es nicht sage, dann doch nur, weil sie irgendwann nachgegeben habe. Oder weshalb habe sie sonst diesen tollen Job? Doch nicht wegen ihrer Arbeit! Wenn sie es nicht sage, dann sei sie an all den folgenden Opfern schuld. Wer ohne Namen zu nennen erzählt, so denken wohl einige, der sei selbst ein bisschen Schwein. Der ursprüngliche Wunsch zu befreien und zu teilen verkommt da teilweise zu etwas zutiefst Voyeuristischem: Man will Gesichter auf der Anklagebank erkennen, denn ein körperloses Phänomen zu benennen ist einfach irgendwann nicht mehr so prickelnd. Zumindest für manche.

Und natürlich erntet die Initiative auch genau deshalb Kritik. Etwa von Starschauspielerin Catherine Deneuve, die diese Denunziationswelle schrecklich findet. Auch Wirtschaftsminister Bruno Le Maire meint, diese Form des Fingerzeigens gehöre nicht zu seiner Kultur. Andere, etwas konservativere Stimmen, wie die von Elisabeth Lévy in Causeur, meinen sogar, diese Form des kollektiven Aufschreis sei nicht nur eine sehr bedenkliche Rückkehr von Denunziantentum, sondern auch eine Bedrohung für das Verhältnis zwischen Mann und Frau. Wir würden uns noch lange an den Oktober 2017 erinnern, meint sie, er markiere einen historischen Bruch.

Das klingt in seiner Dramatik, so prophetisch und trommelnd, doch etwas wild, allerdings wäre es sicher auch falsch, es gleich komplett als rechtskonservative Angst vor einer gleichberechtigten Zukunft abzutun. Erst vor ein paar Tagen erklärte mir ein aus L. A. eingeflogener Programmdirektor von Amazon (ein reizender Mann) bei einem Abendessen auf dem wunderbaren Filmfestival von Lyon, er selbst müsse regelmäßig Schulungen absolvieren, die ihm erklären, ab wann ein Kompliment eine Form von Belästigung ist. „Schönes Kleid“, sagte er, sei schon im tieforangen Bereich, „Steht dir super“ ganz knallrot.

Spätestens da wurde klar, dass in dieser Angelegenheit offenbar keiner mehr weiß, was richtig und was falsch ist, und dass Furcht, wenn wir nicht aufpassen, demnächst alles regiert. Deshalb hoffe ich sehr, dass man in Frankreich nach der Schwein-durchs-Dorf-Treiberei eine richtige Diskussion beginnt. Wie stellen wir uns die Zukunft vor? Ohne Angst! Auf beiden Seiten!

Annabelle Hirsch ist freie Autorin und lebt in Paris