: Die Wahl war ziemlich einfach
Er liebt die Anonymität und hat alles, was er für seine Arbeit braucht. Für den fünften Teil ihrer Serie trifft sich Henriette Harris mit dem Dokumentarfilmer Ron Rothschild aus Israel
Von Henriette Harris
Es wirkt wie ein clash of cultures, als Ron Rothschild die weiße und zart hellblaue Ausgabe von Vladimir Nabokovs „Lolita“ aus seiner Jackentasche zieht und sie auf die braune Laminattischplatte hinlegt. Vermutlich passiert es selten, dass ein englischer Penguin Classic in Hardcover und mit Schmutzumschlag aus dickem, grobem Papier den Weg in den Elit Simit findet. Oder eben nicht. Der 28-jährige Israeli hat vorgeschlagen, dass wir uns hier treffen, weil er, als er vor dreieinhalb Jahren nach Berlin kam, um die Ecke wohnte und den Ort sehr mag.
Alle Tische sind voll besetzt. Oben in der Ecke läuft der Fernseher mit türkischen Popvideos. Neben uns sitzen drei Frauen, zwei mit Kopftuch, die dritte nicht. Sie trinken Tee, essen Börek und kichern ohne Ende, wenn sie sich gegenseitig Fotos aus ihren Smartphones zeigen. Zur anderen Seite sitzen sechs Frauen in drei Generationen. Sie fangen den Cafébesuch damit an, dass sie alle ihre Hände gründlich mit Desinfektionsmittel säubern. Die türkische Café-Bäckerei in der Karl-Marx-Straße ist eine Institution, und ich verstehe, warum Ron es hier mag. Die Stimmung ist heiter und die Bedienung sehr freundlich. Ich warte lange darauf, dass Ron und der Fotograf fertig werden, aber keine von den netten Kellnerinnen drängt mich, obwohl ich einen von den besten Tischen in Anspruch genommen und noch nichts bestellt habe.
Ron Rothschild, der Dokumentarfilme macht, ist mit dem Fahrrad angekommen. Seine Brille ist nass vom Nieselregen, seinen Rucksack stellt er auf den Stuhl neben sich. Er trinkt schwarzen Tee und erzählt, dass er nach den obligatorischen drei Jahren im israelischen Militär und seinen Literaturstudien in Jerusalem das Gefühl hatte, dass er weg von Israel musste. „Erst bin ich nach Frankreich und Paris gegangen, aber nach einem Jahr wollte ich von dort weiter. Wegen meiner Großeltern hatte ich auch einen deutschen Pass, also war die Wahl ziemlich einfach“, erzählt er. Seinen berühmten Nachnamen hat er von seinem Großvater väterlicherseits, der in Berlin-Grunewald geboren wurde und 1938 als Kind mit seinen Eltern rechtzeitig nach Palästina flüchtete. Seine Großmutter war auch deutsch. Sie wurde in Seehausen in Sachsen-Anhalt geboren, flüchtete schon 1935 ebenso mit ihren Eltern nach Palästina, wo sie als Erwachsene seinen Großvater kennenlernte.
Als Ron Rothschild nach Berlin kam, hat er sich für eine WG in Neukölln beworben. Die anderen waren zwei Deutsche, ein Mann und eine Frau. „Ich wusste sofort, als ich Olga sah, dass ich da wohnen musste“, erzählt er schmunzelnd. Und die Freude an der neuen Bekanntschaft war gegenseitig. Die zwei wurden ein Paar, schnell war auch August, der jetzt zwei Jahre alt ist, ein Faktum. Er fängt jetzt an zu sprechen, Deutsch mit seiner Mama und Hebräisch mit seinem Papa.
Ron Rothschild ist stolz darauf, wie gut sein Sohn beide Sprachen schon meistert. Im März wird ein neues Baby dazustoßen. „Die letzten Jahre waren schon ein bisschen verrückt“, sagt er und sieht leicht erschöpft aus. Er schielt zu seinem Handy. August ist krank geworden, und vielleicht muss er bald los.
Die schöne Nachricht vom künftigen Kommen ihres Sohnes hat das junge Paar damals in Elit Simit gefeiert. „Auch deswegen habe ich es hier vorgeschlagen. Weil du gesagt hast, dass es ein Ort sein sollte, der mir Freude bringt“, sagt er. Olga und Ron sind in der Zwischenzeit nach Friedrichshain umgezogen, wo sie sich als Kinder- und Jugendpsychiaterin im dortigen Klinikum ausbilden lässt. Bald werden sie aber nach Alt-Treptow umziehen. „Weil es so nah an Neukölln liegt“, sagt Ron. Aber wie war es für einen israelischen Juden, dessen Familie aus ihrer deutschen Heimat verjagt wurde, zum Geburtsort seines Großvaters zurückzukehren?
Immer mehr internationale Zuzügler sind in den vergangenen Jahren nach Berlin gekommen.
Was suchen und was finden sie in Berlin? Unsere Autorin Henriette Harris, die 2004 aus Kopenhagen nach Berlin kam, stellt die Neuankömmlinge an dieser Stelle einmal im Monat vor.
„Das erste Mal, wo ich nach Deutschland kam, das war vor der Entscheidung, hierherzuziehen, habe ich nur herumgeschnüffelt. Es war sehr hart für mich, und ich musste an meinen Vater denken. Mein Vater sprach kein Deutsch. Trotzdem haben seine Eltern nie richtig Deutschland hinter sich gelassen. Klar waren sie Jeckes“, lacht er, als ich frage, ob sie zu den genauen und ordentlichen deutschen Juden in Israel gehörten.
Ron Rothschilds Vater fuhr das erste Mal als erwachsener Mann beruflich ins Land seiner Eltern, nach Nürnberg. „Erst ging es gut. Er kam gelassen zurück. Das zweite Mal musste er plötzlich nach zwei Tagen wieder abreisen. Er konnte es nicht aushalten. Es war zu hart für ihn. Er hat sich zu wohl gefühlt. Es war zu viel wie zu Hause, weil meine Großeltern immer noch so deutsch geblieben sind. Das Gefühl habe ich auch erkannt“, sagt Ron Rothschild.
Er weiß nicht, ob er und seine kleine Familie in Berlin noch lange bleiben werden. Olga, die in Kasachstan geboren ist, aber in Hamburg studiert hat, will vielleicht irgendwann zurück in die Hansestadt, wo sie sich sehr wohl fühlt. Aber er lebt sehr gerne hier.
„Ich liebe es“, sagt Ron. „Zum Beispiel hier in diesem Café fühle ich mich überhaupt nicht wie ein Ausländer. Schau dich mal um. Du bist hier die Ausländerin“, sagt er und tatsächlich sehe ich mit meinen hellbraunen Haaren und Aspirin-weißer Hautfarbe sehr fremd aus.
„Aber Berlin ist eine Blase. So wie Tel Aviv in Israel eine Blase ist. Ich bin mit meinem Bruder Gil, der in San Francisco lebt, nach Seehausen gefahren, um den Geburtsort unserer Großmutter zu besuchen. Es war schon merkwürdig, da zu sein, weil wir ganz deutlich das Gefühl hatten, dass wir dort wegen unseres Aussehens unerwünscht waren“, erzählt er. Der Besuch zurück zu den Wurzeln kam nicht aus reiner Vergnügung oder aus Sentimentalität. Ron Rothschild arbeitet zurzeit an einem Film über seine Familiengeschichte, wozu auch sein drei Jahre jüngerer Adoptivbruder aus Eritrea zählt. Er hat jetzt in Berlin Asyl beantragt, weil er Israel zu verlassen hatte, und Ron Rothschild ist glücklich, dass er hier ist.
„In mancher Hinsicht finde ich es merkwürdiger hier Israeli zu sein als Jude. Ich gehe in die Coffeeshops auf der Sonnenallee und da treffe ich oft Palästinenser. Einige gucken mich schon schräg an, wenn sie erfahren, dass ich aus Israel komme, das würde ich aber auch, wenn ich sie wäre. Aber mit vielen führe ich gute Gespräche. Diese Treffen finde ich ziemlich einzigartig. Sie wären in Israel gar nicht möglich. Hier in Deutschland sind wir aber im selben Boot den Deutschen gegenüber“, lächelt er.
Beruflich ist es für ihn als Dokumentarfilmregisseur gar nicht schlecht, in Berlin zu sein. „Hier sind so viele Israelis. Mein Produzent ist aus Israel, mein Editor auch, es gibt eine richtige Szene hier. Dazu kommen die vielen Stiftungen, wo man Geld beantragen kann, wenn man eine Geschichte wie meine hat. Manchmal denke ich, dass es einfacher für mich hier ist, als wenn ich Deutscher wäre“, sagt er.
Ron Rothschild genießt auch die Anonymität, die die neue Stadt immer noch bringt. „Letztes Mal, wo ich nach Israel fuhr, dachte ich auf den Weg vom Flughafen nach Tel Aviv, dass ich alle Menschen schon kannte. Hier denke ich, dass ich niemanden kenne. Und das tue ich auch nicht. Das ist schön“, sagt er, bevor wir uns verabschieden. Der kleine August wartet.
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