Zu klein gemacht

Im ewigen Kreislauf sexualisierter Gewalt – Barrie Kosky hat inder Komischen Oper „Pelléas et Mélisande“ neu in Szene gesetzt

Zwei Brüder, einer Frau: Günter Pappendell (Golaud), Dominik Königer (Pelléas), Nadja Mchantaf (Mélisande)Foto: Monika Rittershaus

Von Niklaus Hablützel

So matt und kleinlaut war der Beifall am Ende schon lange nicht mehr in der Komischen Oper. Intendant Barrie Kosky hat die Bühne seines Hauses für die erste große Premiere der Saison nicht geöffnet. Er hat sie zugesperrt. Auf einer schwarzen Wand ist schemenhaft der geraffte, ebenfalls schwarze Vorhang eines zweiten, sehr viel kleineren Theaters zu erkennen. Offenbar ein Haus der Vergangenheit: „Pelléas et Mélisande“ ist 1902 zum ersten Mal öffentlich aufgeführt worden.

Unter dem altmodischen Prachtvorhang jedoch steht ein riesiges Objekt aus dem Studio eines Designers der Spitzenklasse. Klaus Grünberg hat es entworfen. Es besteht aus drei konzentrisch ineinandergestellten Kreissegmenten, die den Blick auf einen geschlossenen Zylinder im Zentrum lenken. Am Boden in den engen Spalten zwischen den aufgeschnittenen Kesselwänden davor liegen drehbare Kreise. Auch der Zentralzylinder ist drehbar. Das Material könnte Edelstahl sein, ist jedenfalls sehr edel in mattem Dunkelgrau und kleinen weißen Quadraten lackiert.

Der Reiz des Ungesagten

Welchem Zweck dieser luxuriöse Blickfang dienen könnte, ist rätselhaft. Er steht einfach nur schwer lastend und düster auf der Bühne und lässt vollautomatisch seine Bodenkreise rotieren, mal linksrum, mal rechtsrum, oft gegenläufig zur Rotation des Zentrums. Irgendein digitaler Algorithmus wird schon dahinterstecken. Klar ist nur, dass es darum geht, den Schauplatz von Debussys einziger und zugleich epochaler Oper möglichst klein und eng zu machen.

Wie immer gelingt es Kosky sehr gut, wirklich zu zeigen, was er zeigen möchte. Eingezwängt in diese Folterkammer beginnt die simple Eifersuchtsgeschichte des Symbolisten Maurice Maeterlinck wie von selbst zu kochen. Ein Mann im Anzug findet im Wald eine junge Frau, nimmt sie mit nach Hause, weil er vorher artig Großvater und Mutter gebeten hat, sie heiraten zu dürfen. Sein Halbbruder verliebt sich umgehend in die schöne Fremde, die „Mélisande“ heißt, aber nicht sagen will, wer sie ist und woher sie kommt.

Brudermord und Tod des Liebesobjekts sind die erwartbaren Folgen, doch der ganze, wenn heute auch etwas verblasste Reiz von Maeterlinck liegt darin, die offensichtliche Banalität der Handlung aufzulösen in lakonische Halbsätze, die immer etwas ungesagt und offen lassen.

Kosky hat dieses literarische Spiel von Andeutungen nun dazu verleitet, besonders tief zu bohren. Wie in einer freudianischen Familienaufstellung ziehen die Personen auf den Kreisen der Bühnenkammer aneinander vorbei, angezogen und abgestoßen zugleich von Wünschen und Sehnsüchten, die sie nicht aussprechen, aber auch nicht verschweigen können. Verlegen streichen sie mit ihren Händen über den Körper, probieren verrenkte Umarmungen des anderen aus, suchen den Griff zum Geschlecht, das sie verbergen möchten.

Das Theater der Triebschicksale endet in drastischer Eindeutigkeit. Stöhnend lässt sich Mélisande auf dem vordersten Drehkreis liegend vorbeitragen, die Hand zwischen den Schenkeln, der Großvater geht ihr handgreiflich an die Wäsche, im blutverschmierten Unterhemd stirbt sie am Ende den Opfertod häuslicher Gewalt. Zu sehen ist all das sehr gut, der Designerkasten der Bühne zwingt dazu, aber die Hölle dieser Familie lässt kalt. Längst ist alles gesagt, wir brauchen dafür Therapien, kein Theater und schon gar keinen Debussy.

Längst ist alles gesagt, wir brauchen dafür Therapien, kein Theater und schon gar keinen Debussy

Den Raum genommen

Das eigentliche Opfer dieser mikroskopischen Vivisektion ist deshalb die Musik von Claude Debussy. Jordan de Souza, mit dieser Spielzeit vom Studienleiter zum Kapellmeister des Hauses aufgestiegen, gibt dem Orchester all die Eleganz und federnde Leichtigkeit, die nötig sind, um den unvergleichlichen Klang dieses absoluten Meisterwerks am Anfang der Moderne zu treffen. Die bewährten Ensemblemitglieder Jens Larsen (Arkel), Günter Papendell (Golaud), Dominik Köninger (Pelléas), Nadine Weissmann (Genèviève) und Nadja Mchantaf (Mélisande) geben ihr Bestes.

Wunderbar zeichnen ihre Stimmen die mal weitgespannten, dann wieder kurz eingestreuten Sprachmelodien nach, die getragen sind von Instrumentalfarben und Harmonien, die so vorher noch nie zu hören waren.

Aber sie alle scheitern daran, dass ihnen Kosky den Raum genommen hat, den sie brauchen. Debussy spannt ständig neue, weite Horizonte auf. Er möchte in unendliche Fernen blicken lassen, sicher nicht in religiöse Paradiese, wohl aber in manchmal auch grausame Welten des Zaubers und der Geheimnisse. Weil Koskys Psychoschocker dafür so gar keinen Platz hat, ist sein Werk am Ende genauso tot wie das Liebespaar, das offenbar mal wieder für seine Lust bestraft werden musste.

„Pelléas et Mélisande“,wieder 21., 28. 10., 17. 11. 2017