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„Auf ihren eigenen Rhythmus hören“

Mit sanftem Humor sinniert die französische Comiczeichnerin Aude Picault in ihrem Band „Ideal Standard“ aus weiblicher Perspektive über essenzielle Themen. Ein Gespräch über Liebe, Lust und die Suche nach sich selbst

Interview Elise Graton

taz am wochenende: Frau Picault, Claire, Ihre 32-jährige Protagonistin, ist eine selbstständige Frau. Doch frei scheint sie nicht zu sein.

Aude Picault: Genau. Sie sehnt sich nach einem „geregelten“ Leben mit festem Freund und Kind, weil das in ihrem Umfeld die Norm ist. Um so schnell wie möglich ihrem Außenseitertum zu entkommen – denn so empfindet sie ihre Lage –, lässt sie sich einiges gefallen, auch wenn es ihr nicht gut tut.

Aus welcher Dringlichkeit ist die Geschichte entstanden?

Die gleichen Fragen, die Claire an sich zweifeln lassen, haben auch mich beschäftigt. Ich fand keine Ruhe. So kam das Bedürfnis, das Thema in einem Comic zu verarbeiten und es dabei ernsthaft anzugehen, anstatt Witze über das Singledasein zu reißen.

Ideal Standard“ liefert ein breites Bild von der ungleichen Beziehung zwischen Frau und Mann in der modernen Gesellschaft. Auch Ihr Buch scheint wie aus verschiedenen Puzzlestücken gebaut zu sein.

Ich führe Skizzenbücher über meine Obsessionen. Über die Jahre habe ich etliche Szenen und Gespräche zeichnerisch festgehalten, die ich erlebt oder beobachtet habe. Weil meine Fragen dadurch aber nicht beantwortet wurden, habe ich mich zusätzlich in die Lektüre von wissenschaftlichen Werken vertieft, wie zum Beispiel „Masculin/Féminin“ von Françoise Héritier, in dem sie das Fundament der Hierarchie zwischen den Geschlechtern anthropologisch untersucht. Das gesammelte Material aus konkreten Anekdoten und theoretischen Konzepten habe ich dann karteikartenmäßig nach Themen organisiert.

Die Autorin: Aude Picault, geboren 1979 in Frankreich, studierte Grafik und Kommunikationsdesign an der Pariser Kunsthochschule „Arts Déco“.

Der Comic: „Ideal Standard“. Reprodukt, 160 S., 24 Euro.

Welche zum Beispiel?

Sexualität, Mutterschaft, Arbeit, Resignation, Einsamkeit, Kinder, Erziehung … sehr breite Themen. Dazu notierte ich Beobachtungen darüber, wie Frauen formatiert werden. Und dann hat es noch eine ganze Weile gedauert, bis ich das alles zu einer ultrabanalen Geschichte aus dem täglichen Leben verdichten konnte.

Hatten Sie eine besondere Leserschaft vor Augen?

Ein Zielpublikum habe ich eigentlich nie, wenn ich schreibe. Allerdings beschäftigt mich umso mehr die Lesbarkeit meiner Arbeiten. Sie müssen klar und leicht zugänglich sein.

Sie sind bekanntermaßen ein großer Fan der nun 77-jährigen Karikaturistin Claire Brétécher, und wie bei ihr gibt es bei Ihnen kaum eine Figur, die besser dasteht als die anderen. Jedoch ist Ihr Ton weit weniger ätzend als der Brétéchers.

„Meine Generation tendiert dazu, alles so hübsch und glatt wie möglich darzustellen. Schon krank, oder?“

Kürzlich habe ich darüber nachgedacht, wie hässlich Brétécher ihre Figuren zeichnete und wie meine Generation wiederum dazu tendiert, alles so hübsch und glatt wie möglich darzustellen. Schon krank, oder? Jedenfalls gehe ich mit meinen Figuren tatsächlich mit einer gewissen Nachsicht um. Ich wünsche mir zutiefst, dass sie im Leben klarkommen.

Claire ist Krankenschwester auf der Neugeborenenstation. Warum haben Sie ihr diesen Beruf gegeben?

Der Beruf hat mich fasziniert. Anderthalb Jahre hat es gedauert, bis ein Arzt in Créteil bei Paris mir endlich erlaubte, sein Team über zwei Monate zu beobachten und zu interviewen. Erst dann habe ich bemerkt, wie gut es zu meinem Thema passte: Dort werden Patienten behandelt, die noch nicht sprechen können und sehr fragil sind. Manche sind winzig! Und obwohl alle das Gleiche erleben, reagiert kein Kind auf die gleiche Art und Weise auf die Situa­tion. So muss das Pflegepersonal seine Vorgehensweise ständig hinterfragen.

Es gibt also keine Norm.

Genau, und das ergab einen hervorragenden Kontrast zu Claires Privatleben, in dem sie verzweifelt versucht, sich einer Norm unterzuordnen, ohne auf ihren eigenen Rhythmus zu hören. Darüber hinaus verlangt der Job Mut und Zuwendung. Damit wollte ich Claire vor jeglichem moralischen Urteil schützen, wenn in ihrem Leben das Thema Abtreibung auftaucht, denn das ist in Frankreich noch ein Tabu.

Das Recht auf Abtreibung wird derzeit von populistischen und ultrakonservativen Gruppen vermehrt infrage gestellt – aber ein Tabu?

Ich finde schon. In den Fernsehnachrichten habe ich zum Beispiel einen Bericht gesehen, der mich ziemlich schockiert hat: In einer Sequenz sprach ein Arzt mit einer Frau, die zum dritten Mal abtreiben wollte. Ihr Gesicht war unkenntlich gemacht, aber die Kamera hielt erbarmungslos auf ihr weites Dekolleté. Ehrlich, sie wurde wie das schwachsinnigste Arschloch vorgeführt. Vielleicht war sie das auch, aber über ihre Entscheidung haben wir nicht zu urteilen. Der Bericht warf pauschal ein negatives Licht auf alle Frauen, die diesen Weg gehen. Das finde ich nicht okay.

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