Sie fühlen sich nirgends zugehörig

Zu sehr Anklage? Ach was. Arundhati Roys neuer Roman „Das Ministerium des äußersten Glücks“ ist brutal, aber auch tragikomisch und wird von zutiefst menschlichen Figuren getragen

Arundhati Roy: „Das Ministerium des äußersten Glücks“.Aus dem Englischen von Anette Grube. Fischer Verlag, Frankfurt 2015, 560 Seiten, 24 Euro

Von Susanne Messmer

Einmal, gleich am Anfang, erzählt Anjum einem Mann, der Englisch kann: „Ich bin eine mehfil, eine Versammlung, von allen und niemand, von allem und nichts. Möchtest du noch jemanden einladen? Alle sind eingeladen.“ 200 Seiten später wird die zweite Hauptfigur in Arundhati Roys Roman, die junge Architektin Tilo, mit den Worten eingeführt, dass sie „keine Antworten auf die gewöhnlichen Fragen hatte: Woher bist du? Was tut dein Vater? Niemand schien sie einordnen zu können.“

Endlich, zwanzig Jahre nach Erscheinen von Arundhati Roys preisgekröntem Weltbestseller „Der Gott der kleinen Dinge“, ist der zweite Roman der indischen Autorin erschienen, „Das Ministerium des äußersten Glücks“. Man merkt diesem hochpolitischen Buch an, dass Roy inzwischen zu einer der meistgehörten Globalisierungskritikerinnen und Menschenrechtsaktivistinnen geworden ist, dass sie viel unterwegs war in ihrem Land.

Es gibt Menschen, die die politische Rolle dieser Autorin offenbar von vornherein skeptisch auf das neue Buch schauen lässt. Viele der Themen, die darin auftauchen, beschreibt Arundati Roy seit Jahren in ihren Essays: die staatlich tolerierten Pogrome nationalistischer Hindus gegen Muslime, den Kaschmirkonflikt. Ihre Kritiker nörgeln daher, ihr Buch sei zu glühend, zu wütend, zu sehr Anklage. Es habe sich dem Chaos, das es beschreibt, zu sehr angepasst.

Dabei unterschlagen diese Kritiker die Kraft, die magische Poesie und auch den Humor, die dieses Buch zusammenhalten. Denn all die Ungerechtigkeiten und Grausamkeiten, die Roy bis zur physischen Übelkeit ihrer Leser beschreibt, werden von zwei Figuren getragen, die ebenso tragikomisch sind wie menschlich.

Sie fühlen sich nirgends zugehörig und gehen, anstatt sich irgendwann einzuordnen, immer noch weiter an den Rand. Sie sind Outcasts und schaffen sich eine Welt, in der andere Regeln gelten als da draußen. Und sie werden in einem Ton beschrieben, der einen dermaßen verstrickt, dass es schwer fällt, dieses herrliche Buch wieder loszulassen.

Da ist zum einen die zweigeschlechtliche Anjum. Am ersten Tag nach ihrer Geburt, an dem sich ihre Mutter in der Lage fühlt, das Haus zu verlassen, wird sie zum Schrein des persischen Mystikers und Poeten Hazrat Sarmad Shaheed gebracht, der vom Judentum zum Islam übergetreten und aus Liebe zu einem jungen Hindu nach Delhi kam, um dort am Ende als nackter Fakir in den Straßen der Altstadt zu leben und hingerichtet zu werden.

Quasi folgerichtig schließt sich Anjum, sobald sie denken kann, den Hirja an, wie in Indien Transgender heißen, für die die Gesellschaft einerseits eine traditionelle Rolle vorsieht, die aber andererseits mit Füßen getreten werden.

Nach einem nicht unglücklichen Interim in einer Hirja-Kommune gerät die Muslimin Anjum in Gefangenschaft fanatischer Hindus und kann, traumatisiert, wie sie ist, nicht mehr in ihr altes Leben zurück.

Sie zieht auf einen Friedhof, zunächst als „trostloses, animalisches Gespenst“, doch dann beginnt sie, sich ein Gästehaus zu basteln und andere Außenseiter bei sich aufzunehmen, Muslime und Hindus, Ziegenzüchterinnen und Leichenwäscher. Sie gründet auf diese Art eine fantastische, widerborstige Gegengesellschaft. Mit aller Kraft stemmen sich diese Leute gegen die hereinbrechenden Moderne, in deren Namen „Wolkenkratzer und Stahlfabriken aus dem Boden schossen, Flüsse in Flaschen gefüllt und in Supermärkten verkauft und Fisch in Dosen gepackt wird“, in der aber auch die Armen vertrieben werden. Nur auf dem Friedhof ist das wahre Leben möglich, ein Leben des toleranten Miteinanders.

Doch die zauberhafte Geschichte Anjums ist nur eine Art wärmender Mantel für eine andere, für die ungleich brutalere und herzzerreißende Geschichte Tilos und ihrer drei Collegefreunde, die allesamt in sie verliebt sind und sehr unterschiedliche Wege einschlagen: als Geheimdienstler, als Journalist und als Widerstandskämpfer in Kaschmir. Irgendwann heiratet Tilo den einen, um den anderen zu schützen.

Am Ende zieht sie auf den Friedhof und wird Teil von Anjums kleiner Untergrundgesellschaft.

Da ist es besser für sie.

Da kann sie endlich ihre zerbrochenen Geschichten erzählen, sagt sie. „Indem man sich langsam in alle verwandelt. Nein. Indem man sich langsam in alles verwandelt.“