: Was bei uns hängen bleibt
Worum streiten Politiker im Wahlkampf? Um Steuerkonzepte, Arbeitsmarktreformen, Ökologie und Außenpolitik? Nur oberflächlich. Eigentlich wollen sie das eine: unsere Aufmerksamkeit
VON CHRISTIAN SEMLER
Wer schenkt uns und wem schenken wir Aufmerksamkeit? Seit Georg Franks „Ökonomie der Aufmerksamkeit“ wissen wir, dass Aufmerksamkeit die zweite Währung ist. Wir alle dürsten nach Aufmerksamkeit. Es müssen ja nicht gleich die 15 Minuten Weltruhm sein, die Andy Warhol jedem und jeder als Menschenrecht zuerkannte. Aber auf ein Mindesteinkommen an Aufmerksamkeit sollten wir schon Anspruch haben.
Als Aufmerksamkeitsspender sind wir, sobald es um Informationen geht, nicht mit Mangel, sondern mit Überfluss konfrontiert. Dieser Tatsache zum Trotz wird im laufenden Wahlkampf das Angebot inflationiert. Hier springen die Medien ein, um Informationen zu kanalisieren. Aber auch diese Kanal-ArbeiterInnen sind der Inflationsgefahr, dem Überdruss ausgesetzt.
Das Angebot verknappen, sich als Spitzenpolitiker in der Glotze rar machen? Das konnte bei Wahlkämpfen noch General de Gaulle, denn er zehrte vom Ruhm einer unerschöpflichen Aufmerksamkeitsreserve, für deren Erhalt man nichts tun muss. Aber heute ist an die Stelle des Ruhms die Berühmtheit getreten. Für sie muss ständig und hart gearbeitet werden.
Für Politiker ist es überlebenswichtig, sich mit Fachleuten der Aufmerksamkeit zu umgeben. Deren Anstrengungen gelten einmal Auftritt wie Erscheinungsbild des Kandidaten. Hier stehen wir vor dem Paradox, dass einerseits Kanten und Ecken abgeschliffen, andererseits aber dem Umstand Rechnung getragen werden muss, dass das Publikum gerade auf Unebenheiten der Kandidaten abfährt. Weit wichtiger aber ist die Arbeit der Spezialisten, die den Politiker mit Aufmerksamkeit für die „Sache“ verbinden, für die er stehen soll. Hier geht es um Dramatisierung. Aus einer schier auswegslosen Situation befreit uns der große Wurf. Es gilt, um Aufmerksamkeit für die politische Reform zu werben. Deren innere Konsistenz und Wirksamkeit muss erwiesen werden. Im Fall Schröder die Reform des Arbeitsmarkts, im Fall Merkel die Reform des Steuersystems. Wir betreten hier das Feld der „Policy-Forschung“. Hier wird ventiliert, wie es möglich ist, für ein bestimmtes politisches Themenfeld Aufmerksamkeit zu erregen und das damit verbundene politische Projekt mit Unterstützung der Öffentlichkeit zu lancieren und durchzubringen. Diese Forschungsrichtung steht im Geruch von Manipulationstechniken, aber sie verhilft uns zu ein paar Einsichten ins Thema.
Am wichtigsten ist hier die Annahme, dass politische Aufmerksamkeit einem zyklischen Prozess unterliegt, dem political attention cycle. Dieser Zyklus ist schon zu Beginn der 70er-Jahre in den USA von Anthony Downs untersucht worden – am Beispiel der politischen Chancen ökologischer Reformen. Der Aufmerksamkeitszyklus, den Downs hier entwirft, reicht von der Vor-Problem-Phase, der „alarmierten“ Entdeckung des Problems und dem euphorischen Enthusiasmus für seine Bewältigung über die Einsicht in die Kosten für die Problembeseitigung bis zum mählichen Niedergang des öffentlichen Interesses angesichts der Schwierigkeiten – bis schließlich die Nach-Problem-Phase erreicht ist. Dann wird das Interesse nur noch gelegentlich, bei außerordentlichen Anlässen, aufflackern und ansonsten einem neuen Themenzyklus Platz machen. Und wenn es gut geht, hat der Zyklus einige dauerhafte Maßnahmen und Institutionen hervorgebracht.
Downs Zyklus basiert auf Kosten-Nutzen-Kalkülen, wer ist betroffen, wer muss zahlen, das Ganze untermischt mit Commonsense über erwartbare Publikumsreaktionen, zum Beispiel Ermattung. Zwei wichtige Fragen blieben offen: Wie wird der issue attention cycle einerseits abgegrenzt von den sehr kurzfristigen, durch die Medien produzierten Themenkarrieren, wo ständig neue Säue durch die Aufmerksamkeitsgasse getrieben werden? Und wie verhält sich Downs Zyklus zu jener Aufmerksamkeit, die sich aus tief sitzenden Überzeugungen speisenden Wertorientierungen und ihrer Wellenbewegung?
Auf diesen Mangel reagierte die interessierte Forschung mit dem Schema der drei Wellen. Ultrakurz- bzw. Kurzwelle der Medien, Mittelwelle der politischen Aufmerksamkeitszyklen, Langwelle der Werthaltungen. Natürlich interferieren die Wellen, die Aufmerksamkeit für die Kurzwelle zehrt von der Mittel- und Langwelle. Der political attention cycle, also die Mittelwelle, muss die langen Wellen der Werte in Rechnung stellen, kann sie allerdings auch ändern. Dies aber nur, wenn die politische Aufmerksamkeit für längerfristige und raumgreifende Vorhaben ständig wach gehalten werden kann.
Hinsichtlich der Langwelle hält die empirische Sozialforschung nicht nur für Deutschland, sondern für alle entwickelten Industrieländer eine in den letzten Jahrzehnten vielfach überprüfte Annahme bereit: die vom Siegeszug einer „postmateriellen“ Wertorientierung. Sind die Basisbedürfnisse einer Gesellschaft erst einmal befriedigt, so die Grundannahme, steigt die Sehnsucht nach individueller Lebensgestaltung, nach „Selbstverwirklichung“. Diese neuen Bedürfnisse sind jenseits der Sphäre der Erwerbsarbeit angesiedelt, deren Stellenwert bei Umfragen bis in die 90er-Jahre tatsächlich kontinuierlich sank.
Dass in den ersten Jahren nach der deutschen Vereinigung im Osten die Erwerbsarbeit und die mit ihr zusammenhängenden Werte Arbeitseifer, Disziplin, Wertschätzung des Betriebskollektivs weiterhin hoch gehalten wurden, schrieb man damals in erster Linie der Sozialisation der Ostdeutschen in der DDR zu. Also ein Phänomen des cultural lag.
Wie erklärt sich dann aber, dass in der Mittelwelle, dem politischen Aufmerksamkeitszyklus, bereits seit Beginn der 90er-Jahre die Erwerbsarbeit absolut im Mittelpunkt steht? Und dass die Forderung nach Vollbeschäftigung, die in Übereinstimmung mit der Langwelle noch kurze Zeit vorher als obsolet galt, wieder zur politischen Leitlinie wurde? Existieren zwei im Grunde gegenläufige Wellen, die des langwelligen Postmaterialismus und die Mittelwelle der Politik, die die Zentralität der Arbeit, sprich der Erwerbsarbeit, betont? Auf der Ebene der Ökonomie bedeuten postmaterielle Wertorientierungen, dass die Erwerbsarbeit „dezentriert“, dass verschiedenen Formen der Arbeit als langfristig wirksam anerkannt werden, dass folglich das Grundeinkommen für alle postuliert wird. In den Botschaften der Mittelwelle hingegen wird Aufmerksamkeit für politische Projekte eingefordert, die durch Reformen auf dem Arbeitsmarkt und im Steuersystem in mittlerer Frist wieder Vollbeschäftigung erreichen wollen. Geht es um eine vorübergehende Überlagerung oder ändern sich die Aussagen der postmateriellen Langwelle, die dreißig Jahre lang bei den Umfragen Bestand gehabt hatten? Für die Grünen, die seit ihrer Gründung auf der postmateriellen Langwelle ritten, ist das eine Existenzfrage.
In den neueren empirischen Untersuchungen zu Werthaltungen findet sich nicht nur die Aufwertung der Arbeit, sondern auch ein Revival der mit ihr verbundenen Tugenden, der berühmten „Sekundärtugenden“. Aber damit erschöpft sich nicht der Wertekosmos der Umfragen. Schon die steigende Bedeutung, die der Familie und freundschaftlichen Beziehungen zugemessen wird, braucht nicht nur als Rückzug aus Weltoffenheit und Entdeckerfreude in den Hafen sicherer Bindungen interpretiert zu werden. Es geht auch um die Übernahme von Verantwortung. Einer nur privaten Verantwortung? „Materialisten“ und „Postmaterialisten“ stehen sich in den Umfragen als abgrenzbare Gruppen gegenüber, aber es gibt Sozialforscher, für die beide Werthaltungen fusionieren. Das Engagement in politischen Parteien liegt zwar am Boden, aber nach wie vor wird die Arbeit in Gruppen und Initiativen, die sich fürs Gemeinwohl einsetzen, generell hoch angesehen. Nur beim persönlichen Mitmachen scheiden sich die Geister. „Mitmachen“ geht aber nur, wenn man sich „einbringen“, wenn man mitbestimmen darf. Insofern besteht kein Widerspruch zu dem Wunsch nach Selbstverwirklichung. „Gemeinwohl“ umfasst im Verständnis der Befragten auch die Postulate der Gleichheit und der Gerechtigkeit.
Der „Fall Kirchhof“ bietet ein instruktives Beispiel, wie die Wertorientierungswelle die Mittelwelle des political attention cycle förmlich wegschiebt. Denn Kirchhofs Vorschläge zur Steuer- wie zur Rentenreform verlassen den Boden eines wohl abgestimmten Reformprojekts samt Zahlen und Daten und zwingen das Publikum, seine Aufmerksamkeit auf die grundlegenden Fragen von Gleichheit und Gerechtigkeit zu fokussieren. Die äußerst heftige Reaktion bei den nachfolgenden Umfragen sind ein weiteres Indiz dafür, dass in die scheinbar fest gefügte „postmaterielle“ Langwelle der Wertorientierungen Bewegung gekommen ist. Große Unruhe im Wertehimmel. Und eine Chance, den political attention cycle samt seinen angemaßten Rationalitäts- und Effizienzkriterien zu unterminieren. Dazu können auch die kurzatmigen Kurze-Wellen-Producer beitragen – zum Beispiel die taz.
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