: Harry an der Urne
Wahl Wohnungslose wählen per Brief oder bei der „Pennerwahl“. So wie Harry, der am Wahlsonntag an der Bremer taz vorbeikommt und ganz andere Sorgen hat
Keine Ahnung, ob Harry mit dem Wahlausgang zufrieden ist. Er wollte ja nicht verraten, wem er seine Stimme geben hat. Aber gewählt hat er, der Wohnungslose, der am Sonntag sein monströs überladenes Fahrrad unten an der Bremer taz-Redaktion vorbeischiebt.
„Jetzt ist die nächste Urne dran“, sagt er und sein Grinsen lässt vermuten, dass er den Witz heute nicht zum ersten Mal macht. Sein Bruder ist vor ein paar Monaten gestorben und da will er jetzt hin. Nach Herford auf dem Fahrrad, wo seine Schwester wohnt und wo die Urne noch steht.
Auf dem Papier wohnt Harry da übrigens auch. Briefwahl hat er gemacht, seine erste. Zur letzten Wahl habe er sich noch in Hamburg für die „Pennerwahl“ registrieren lassen, sagt er. Da bekäme man Stimmzettel „und die gucken dann rum, dass man das nicht überall macht.“ Er wähle immer nur die großen Parteien, so wie früher, also vor der Obdachlosigkeit. Ob die was für Wohnungslose in den Programmen haben, wisse er nicht und es sei ihm auch egal.
Und dann fragt er, ob wir als Presse eigentlich schon wissen, was rauskommt. Nein, nicht so verschwörungsmäßig! Sondern weil doch um sechs im Fernsehen Bescheid gegeben wird und die müssten sich ja auch irgendwie vorbereiten. Dann trinken wir einen Kaffee auf taz-Kosten und Harry erzählt. Von seinem Bruder und dem Krebs und dass „Harry“ nicht für Harald steht, sondern dass er eigentlich „Thorsten“ heißt. Und von seiner Mutter und ach.
Was ich gewählt habe, will er dann wissen und ich sag’s ihm. Ich glaube, Harry ist der einzige, der das weiß. Ich habe im Gegensatz zum Rest der Welt darauf verzichtet, das auf Facebook zu posten. „Echt? Machen die das?“, fragt Harry, der nicht auf Facebook ist und das auch alles total scheiße findet. Die geheime Wahl scheint ihm ziemlich wichtig zu sein. Überhaupt klingt bei Harry so eine Ehrfurcht vor dem Wahlakt durch, die ich ehrlich gesagt überhaupt nicht nachvollziehen kann. Nicht mal am Wahlsonntag.
Harrys Bruder war früher in der SPD. Warum und was er da wollte, weiß Harry nicht. Aber Streit hat es deshalb gegeben. Mit dem Vater, der Nazi war – wenn auch „nicht so ganz schlimm“. Ob Harry heute Angst vor Nazis hat, will ich wissen und er sagt „Nee“. Aber vor Krebs. Er glaubt, dass er auch welchen hat.
Beim Arzt war er nicht, aber nach der Beerdigung will er mal hin. Im Winter habe er Zeit. Da kommt er in der Nähe seiner Schwester unter, die ihm was vermittelt hat. Einen Heimplatz, glaubt Harry, will aber auch nicht so richtig drüber reden.
Zum Schluss will er wissen, was morgen in der Zeitung steht, wenn ich doch auch nicht weiß, wie die Wahl ausgeht. Ein bisschen unangenehm ist mir das, weil ich ihn doch ehrlich gesagt genau deshalb nach der Wahl gefragt habe und weil wir sonst auch ganz bestimmt nicht diesen Kaffee miteinander trinken würden. Stört ihn aber nicht. Ob ich dann auch von seinem Bruder schreibe, fragt er nur. Und ich sage: Ja, das würde ich wohl machen. Jan-Paul Koopmann
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