Strukturen fürs kommende Experiment

Renaissance Wenn die Innenstädte zu teuer werden, könnten die in Verruf gekommen Hochhaussiedlungen der Vergangenheit neu entdeckt werden

Die zunehmende Individualmotorisierung erlaubte auch das Wohnen in der Peripherie – mit Licht, Luft und Sonne

von Bettina Maria Brosowsky

Im Jahr 1972 ließ die Stadtverwaltung von St. Louis, US-Bundesstaat Missouri, in einer spektakulären Aktion drei von insgesamt 33 elfstöckigen Wohnzeilen der Siedlung Pruitt-Igoe sprengen. Vom Fernsehen übertragen, leitete man so den demonstrativen Abriss der Siedlung mit insgesamt 2.870 Wohnungen ein.

1955 fertiggestellt und als „Manhattan am Mississippi“ gefeiert, hätten hier eigentlich 15.000 Menschen, zumeist aus „bereinigten“ Slums, eine neue Heimat finden sollen. Aber bereits nach wenigen Jahren griffen Verwahrlosung, Vandalismus und Bandenkriminalität um sich. Wer konnte, zog weg: 1971 verteilten sich gerade noch 600 Mieter auf 17 Gebäude, 16 standen komplett leer. Selten ist wohl ein städtebaulich-architektonisches Sozialprogramm derart schnell gescheitert – nicht zuletzt durch politische Gegner.

Derartige Großsiedlungen sind kein ur-amerikanisches Phänomen, ihr konzeptioneller Ursprung liegt in Europa. Den ungesunden und beengten Lebensbedingungen in den verdichteten Großstädten – ihre Bausubstanz veraltet, nach dem Ersten Weltkrieg zudem überlaufen von Flüchtlingen durch die politische Neuordnung Europas – begegneten Städteplaner und Architekten in den 1920er-Jahren mit neuen Siedlungsmodellen und Stadterweiterungen.

Auch manch radikale Idee war darunter, am bekanntesten sind wohl die urbanistischen Phantasien des schweizerisch französischen Architekten Le Corbusier. 1922 stellt er seine fiktive „Ville Contemporaine“ für 3 Millionen Menschen vor: In der absoluten Geometrie einer barocken Idealstadt bildeten 24 Hochhäuser ihr Zentrum, akkurat wie Schachfiguren aufgestellt.

1925 propagierte Le Corbusier eine Konkretisierung in Paris, sein „Plan Voisin“. Das alte Pariser Zentrum direkt neben dem Louvre – für Le Corbusier eine auszumerzende Fäulnis mittelalterlicher Provenienz, dessen stinkende Gassen noch den Gang des Esels nachzeichnen – sollte abgerissen, eine Neubebauung aus 18 sechzigstöckigen Hochhäusern, wieder als strenge Rasterformation, in ein orthogonales Erschließungssystem platziert werden.

Der Vorschlag erntete heftige Kritik, blieb aber im Kollegenkreis nicht ohne Wirkmacht. Der Städteplaner und Bauhaus-Lehrer Ludwig Hilberseimer, in der publizistischen Theorie ohnehin längst dem urbanen Hochhaus amerikanischer Machart erlegen, sah sich 1929 zum Vorschlag einer Berliner City-Bebauung beflügelt: zwischen Friedrichstraße und Gendarmenmarkt rauschten lange parallele Zeilen über die flächensanierten historischen Parzellen. Zwar moderat in der Höhe und linearen Bauformen zeittypischen Siedlungsbaus verwandt, negierten auch sie den Kontext der Stadt, bildeten solipsistische Fremdkörper betonter Radikalität.

1933 folgte mit der „Charta von Athen“ ein Regelwerk, sie war das Ergebnis eines internationalen Kongresses unter Federführung von Le Corbusier. Die Charta benannte vier städtische Funktionen – Wohnen, Arbeiten, Erholung und Verkehr –, konnte aber erst nach dem Zweiten Weltkrieg ihre doktrinäre Wirkung in der Praxis entfalten.

1962 auch auf Deutsch erschienen, wurde sie fortan zur städtebaulichen Leitlinie einer sogenannten Funktionstrennung (fehl-)interpretiert, mit den bekannten Folgen: Verkehrsschneisen durch die bestehende Stadt sowie Trabantenstädte und Großsiedlungen, mitunter als reine Schlafstädte, auf der grünen Wiese. Die Liste derartiger Siedlungen ist zwar auch in Norddeutschland eindrucksvoll: Bremen-Vahr mit gut 11.000 Wohnungen, Braunschweig-Weststadt mit 12.000, Hamburg-Hausbruch-Neuwiedenthal mit 13.500, aber nichts gegen Berlin-Marzahn mit gut 58.000 Plattenbau-Einheiten produktivster Plansollerfüllung der DDR. Der Osdorfer Born mit etwas über 4.000 Wohnungen nimmt sich daneben geradezu bescheiden aus, kann aber das zur Fertigstellung 1971 mit zwanzig Geschossen höchste Wohnhaus Hamburgs bieten.

Heute sind viele dieser Siedlungen in Misskredit geraten. Sie gelten als sozial homogene Brennpunkte, auch weil ab den 1990er-Jahren eine „Fehlbelegungsabgabe“ besser Situierte aus ihnen nicht mehr zustehenden Sozialwohnungen verdrängte. Und zugegeben, es fällt schwer, sich das ursprüngliche Lebensgefühl und die breite gesellschaftliche Aufbruchsstimmung vorzustellen, die diese Daseinsentwürfe ab Mitte der 1960er-Jahre widerspiegelten: Provisorien der Nachkriegsjahre waren überwunden, es herrschte Wirtschaftswachstum mit Vollbeschäftigung, die zunehmende Individualmotorisierung erlaubte auch das Wohnen in der Peripherie – mit Licht, Luft und Sonne.

Wäre es heute nicht redlich, diesen Siedlungen ganz ideologiefrei zu begegnen? Im vereinten Deutschland werden sie selbst bei massiven Problemen, anders als in den USA, meist nicht vollständig abgerissen. Eher wird ihre monotone Baustruktur oder Höhe „zurückgebaut“ und ästhetisch aufgewertet, werden technische und soziale Infrastruktur nachgerüstet, die charakteristischen großräumigen Frei- und Grünflächen „qualifiziert“, was immer das heißen soll.

Die Großsiedlungen aber bieten mehr: nämlich solide Strukturen fürs kommende, gesellschaftliche wie architektonische Experiment. Wenn Städte weiter wachsen, sich ihre Zentren und prominente neue Lagen hochpreisig verdichten, letzte Altbau-Enklaven gentrifiziert sind, kann für weite Teile städtischer Bevölkerung der (vormals) suburbane Bestand interessant werden. Aber kaum jemand wird sich dann für die dortigen Standardwohnungen begeistern, sondern differenziertere Wohnangebote sowie partizipative Miet- und Organisationsformen nachfragen.

Was spricht also dagegen, freier umzugehen mit den öffentlich geförderten, schon lange amortisierten Architekturen, häufig noch im kommunalen Besitz? Warum nicht Wohnungen zu flexiblen, größeren Einheiten zusammenlegen, um anderen Lebensformen Platz zu bieten? Warum nicht bauliche Brachialformen aufbrechen, etwa um Wintergärten über mehrere Geschosse einzuschneiden, luftige, private oder gemeinschaftliche Freiräume einzurichten? Warum nicht ganze Geschosspakete leerräumen und zu nutzungsneutralen Decks umfunktionieren, in denen Gewerbe, Werkstätten, Arbeitsplätze, Bereiche für Kinder und gemeinsame Küchen Platz finden? Warum nicht das üppige „Abstandsgrün“ zwischen den Häusern zur gärtnerischen Eigeninitiative freigeben?

Bettina Maria Brosowsky ist Architektin und Autorin in Braunschweig.