Berliner Szenen: Smalltalk im Bus
Zahlenallergie
Eine Gruppe Zwölfjähriger steigt früh morgens am Rathaus Spandau in den M 45er. Zwei Jungs setzen sich nebeneinander und ziehen ihre Zeugnisse aus den Rucksäcken. Die beiden tauschen die Blätter und sehen sich das Zeugnis des jeweils anderen in Ruhe an. Nach ein paar Minuten: „Alter, was hast du denn da gemacht? Nur gepennt, oder was?“ Der andere sieht etwas betreten aus dem Fenster und antwortet: „Ich hab halt’ne Zahlenallergie oder so. Mir wird echt schlecht, wenn ich Dezimalzahlen und so auch nur sehe.“ Sein Freund lacht: „Jaja, kenn ich.“
Die beiden vergleichen ihre Noten und unterhalten sich über eine Lehrerin. „Das Leben von der Schulz will ich haben“, sagt der eine. „Ich glaub, die ist Vollzeit. Und wenn die festangestellt ist beim Staat, dann kriegt die’n ganzen Batzen für die gequirlte Kacke, die sie labert.“ Sein Freund lacht: „Ja, echt, von wegen Lehrer nehmen die Arbeit mit nach Hause. Die macht zu Hause sicher nichts. Manchmal denk ich bei ihren Noten, die hat mit ihrer Katze Ching, Chang, Chong gespielt.“ Er schneidet eine Grimasse: „Papier besiegt Stein, das ist’ne Drei. Stein fällt in den Brunnen, das wird’ne Fünf.“ Sein Freund lacht. „Auf jeden!“ Beide lachen eine Weile. „Irgendwie kann die einem voll leidtun. Die hat sicher keinen Mann.“ Der andere nickt betreten. Dann sagt er: „Ich finde, der Schmitz ist ein lässiger Typ: Unterrichtet nur Sport und Theater und muss nix nach Hause nehmen, kriegt aber die gleiche Kohle wie die anderen. Und die Frau von dem ist Architekt.“ Der andere pfeift durch die Zähne. „Wow. Die beiden wohnen sicher in’ner krassen Hütte. Was die zusammen verdienen müssen, Respekt!“ Beide starren einen Moment auf ihre Zeugnisse. Dann sagt der eine zum anderen: „Architekt soll aber auch voll hart sein. Voll das lange Studium und voll viel Mathe.“ Eva-Lena Lörzer
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