Berliner Szenen
: Das Private ist öffentlich

Chillender Nachbar

Alles ist ­topaufgeräumt, ­topgeschmackvoll

Wenn ich einmal alt und in Rente bin, werde ich – wenn es dann noch eine Rente gibt und wenn ich mit der Arbeit am Stammbaum fertig bin – in den Berliner Archiven Antwort auf eine Frage suchen, die mich schon lange beschäftigt: Warum haben Altbauten in Kreuzberg ein Hochparterre, zu dem man eine halbe Treppe hochgehen muss – die Häuser in Neukölln aus der gleichen Zeit hingegen Erdgeschosswohnungen auf Straßenebene?

Aktueller Anlass der Überlegungen: eine Erdgeschosswohnungen nebenan, deren Bewohner die Fenster sperrangelweit aufreißt, wenn er abends in seinem an der Weserstraße gelegenen Wohnzimmer auf der Couch chillt. Jeder, der vorbeigeht, sieht einen dünnen Mann mit kahl rasiertem Kopf und dickem Metallring in der Nasenscheidewand. Er liegt auf dem Sofa, starrt auf den Laptop.

Im Zimmer ist es meist schon ziemlich finster, wenn ich vorbeigehe. Das fahle Licht des Monitors lässt den kugelrunden Schädel des Mannes wie eine Pampelmuse erscheinen. Hinter dem Sofa zeigt eine Fototapete eine Waldszene. An der Stirnwand links und rechts der Zimmertür stehen schmale Schränkchen, die ordentlich mit Coffee Table Books vollgeräumt sind, rechts ein Sekretär. Alles ist topaufgeräumt und topgeschmackvoll. Es wirkt wie eine Theaterkulisse. Der Mann ist immer allein.

Früher waren die Fenster der Erdgeschosswohnungen in Neukölln von einst mit nikotingelben Gardinen verhängt. Oder zugeklebt, je nach Lebensstandard des Mieters mit milchglasartiger Folie, vergilbtem Geschenkpapier oder Werbezetteln von Kaufland. Heute werden um die Ecke Dachgeschosswohnungen für eine schlappe Million angeboten, und wir leben im Zeitalter von Instagram. Da zeigt man, was man hat. Nicht nur online, sondern auch den Passanten im Kiez. Tilman Baumgärtel