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TAUSENDUNDEINE NACHT AUF DER FUSSGÄNGERBRÜCKETraum und Elend

NEBENSACHEN AUS DELHI VON GEORG BLUME

Seit fast zwei Monaten fahre ich ins neue taz-Büro in Delhi, verhandele jeden Morgen mühsam mit dem Motorrad-Rikschafahrer den Fahrpreis, stehe im Stau, verstecke mich hinter der Zeitung, wenn sich die Bettler auf den reichen Ausländer stürzen. Nichts zahlen, sagen die Inder, das Geld bekommen sowieso andere! Aber es ist anstrengend, immer wegzuschauen.

Und dann erst der Verkehr! Ohne Schrecksekunde gibt es in Delhi keine Rikschafahrt. Wie froh war ich deshalb, als ich neulich mein altes japanisches Fahrrad wieder flottbekommen hatte. Die erste Fahrt unternahm ich abends zurück vom Büro nach Hause. Erst holte ich Hanna ab, meine siebenjährige Tochter. Es war schon spät. Auf einmal fuhren wir durch dunkle Straßen ohne Beleuchtung. Ich verfuhr mich. Hanna schimpfte mit mir. Wir nahmen einen Schleichweg durch die Wohnviertel, den die Rikschas nicht fahren können, weil er in einer Fußgängerbrücke über der großen Ring-Stadtautobahn von Delhi mündet.

Im Stockdunkeln begegneten wir drei schwarzen Kühen: Vollbremsung – aber Hanna freute sich. Endlich Kühe auf der Straße. Hanna hatte in unserer Nachbarschaft bisher nur Affen, Papageien und Elefanten getroffen.

Nun war aber unser Beinah-Zusammenstoß kein Zufall, denn wir näherten uns einem alten Sikh-Tempel, um den herum die Tiere besonders gepflegt werden und deshalb zahlreich sind. Plötzlich waren die Gassen hell und belebt. Es duftete nach Samosa und frischem Hirsebrot. Die vielen Männer in den Gassen aber trugen Turbane und lange Bärte wie die meisten männlichen Angehörigen der nordindischen Sikh-Minderheit.

Hanna staunte. Der Tempel grenzt gen Norden an die Ring-Autobahn. Wir erklommen die Fußgängerbrücke und schauten zurück: Da türmte sich der Tempel mit seinem vielen weißen Kuppeln und runden Torbögen wie ein großes Schloss über Delhi auf. Hannas Angst und Sorge waren verflogen. Willkommen in Tausendundeiner Nacht!

Wie anders zeigte sich die Stadt, als ich am nächsten Morgen mit dem Fahrrad ins Büro fuhr. Jetzt sah ich alles, was Dunkelheit und Tempelbeleuchtung verschluckt hatten – zuerst die armen Zeltbewohner unter der Fußgängerbrücke. Ihre Kinder, notdürftig bekleidet, sind auch am Morgen bei der Mutter, weil sie nicht zur Schule gehen. Plötzlich winkten mir die Kinder zu. Hatten sie zugeschaut, als Hanna und ich auf der Brücke von Tausendundeiner Nacht träumten? So nah sind sich Traum und Elend in Indien wohl immer.

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