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Unsterblichkeit auf der Tagesordnung

KOSMISMUS HKW-Ausstellung: In Russland träumte die künstlerisch-wissenschaftliche Avantgarde der „Immortalisten“ zu Beginn des 20. Jahrhunderts vom ewigen Leben und der Besiedlung des Weltalls

Mit Juri Gagarin wurde das Privileg der Verwurzelung endgültig beseitigt

von Helmut Höge

Der russische Kosmismus begegnete uns in kleinen Dosen bereits durch die mitunter versteckten Übersetzungen des Ehepaars Mierau für einige DDR-Verlage. Nach der Wende enterte der Philosoph Boris Groys die westdeutschen Verlage damit. Er war 1981 von Moskau in die BRD emigriert. 2005 gab er zwei fette Aufsatzsammlungen zum Thema heraus: „Die neue Menschheit. Biopolitische Utopien in Russland zu Beginn des 20. Jahrhunderts“ und „Am Nullpunkt. Positionen der russischen Avantgarde“.

Mit dem Punkt war die Oktoberrevolution 1917 gemeint, die sich nun zum 100. Mal jährt, weswegen das Haus der Kulturen der Welt (HKW) ihr ein aufwändiges Event gewidmet hat. Boris Groys konzentriert sich dabei auf den russisch-sowjetischen Unsterblichkeitswahn, der eine Weltraumeroberung notwendig machte. In der Regierungszeitung Iswestija hatten die revolutionären „Biokosmisten“ (auch „Immortalisten“ genannt) 1922 erklärt: „Wir stellen fest, dass die Frage der Verwirklichung persönlicher Unsterblichkeit jetzt in vollem Umfang auf die Tagesordnung gehört.“ Der „Vater der sowjetischen Raumfahrt“ Konstantin Ziolkowski dachte noch weiter: Wenn niemand mehr stirbt, dann gibt es bald zu viele Menschen auf der Erde, deswegen müssen wir rechtzeitig neue Planeten besiedeln.

Der Gedanke eines in das Universum führenden „Lebensweges“ scheint überhaupt sowjetisch zu sein. So unterscheidet sich der dortige „Kosmos“-Begriff vom amerikanischen „outer space“ dadurch, dass ersterer mit der irdischen Lebenswelt „harmonisch“ verbunden ist, während der US-Weltraum so etwas wie eine „new frontier“ darstellt, die es zu überwinden gilt. Und so hieß dann auch die Autobiografie des ersten Werktätigen im All, Juri Gagarin: „Der Weg in den Kosmos“.

Möglich wurde dieser gerade Weg allerdings erst nach dem Krieg mit der Entführung des NS-Raketenbauers Helmut Gröttrup und seiner Brigade in die Sowjetunion. Nach Gagarins geglücktem Weltraumflug jubelte der jüdische Philosoph Emmanuel Lévinas: „Mit Gagarin wurde endgültig das Privileg der Verwurzelung und des Exils beseitigt“, seitdem gibt es keine „Heimat“ mehr. Nach Auflösung der Sowjetunion gab einer der letzten MIR-Kosmonauten jedoch zu bedenken: „Wir haben unser Hauptproblem nicht gelöst. Wir können in den Weltraum fliegen, dort arbeiten und wieder zurückkehren, aber wir haben keine natürliche menschliche Betätigung im Weltraum – im Zustand der Schwerelosigkeit – gefunden. Bis jetzt haben wir keine produktive Tätigkeit dort oben entwickeln können. Ich empfinde das als persönliches Versagen.“

Dennoch bleiben die zwei verbundenen sowjetischen Utopien lebendig: im kapitalistischen Amerika, wo man sowohl weiter an der Besiedlung des Mars arbeitet als auch an der Unsterblichkeit. Beides sind nun allerdings „Projekte“ von einigen steinreichen Irren. Aber schon der hinter dem sowjetischen Doppelprogramm stehende Fortschrittsglaube von Marx und Engels war ein Irrsinn. Engels schrieb 1883, dass die Entwicklung der Technik die Industrie von allen Lokalschranken befreien werde: „Es liegt auf der Hand, dass damit aber auch die Produktivkräfte eine Ausdehnung bekommen, bei der sie der Leitung der Bourgeoisie mit gesteigerter Geschwindigkeit entwachsen“ – und somit quasi dem Proletariat wie reife Früchte in die Hände fallen.

Im Marxschen „Kapital“ findet sich jedoch auch der Hinweis, dass die ungezügelte kapitalistische Akkumulation „die Springquellen allen Reichtums untergräbt: die Erde und den Arbeiter“. Genau das geschieht derzeit. Heute, mit fast 8 Milliarden Sterblichen auf dem immer mehr verwüsteten Planeten Erde, ahnen wir bereits: „Es gibt keine ökonomische Utopie mehr, nur noch eine ökologische“ (Bruno Latour). Und diese dürfte wohl auch eine Utopie bleiben. Was uns zu tun bleibt, hatte der Herausgeber des „Kursbuchs“, Karl-Markus Michel, bereits 1985 auf einen Nullpunkt gebracht: „Untergehen, aber mit Würde!“

Über ihr Ausstellungs- und Konferenzprojekt schreiben die HKW-Veranstalter: „Aus heutiger Sicht eröffnet der Russische Kosmismus, obwohl von der offiziellen Sowjetideologie überschattet, neuartige Perspektiven auf die russische Avantgarde sowie Ideologie und Politik Russlands bis in die Gegenwart.“ Lassen wir den sogenannten Putin für einen Augenblick beiseite, dann bestand die russische Avantgarde aus revolutions­trunkenen Wissenschafts- und Kunstfanatikern. Die Veranstalter erwähnen namentlich Nikolaj Fedorov, dieser verlangte „in seinen einflussreichen Schriften, dass oberstes Ziel der Technologieentwicklung die Überwindung des Todes sein müsse.“

Inzwischen hat die Entwicklung von Wissenschaft und Kunst dazu geführt, dass fast alles Lebendige denaturiert und verdinglicht wurde. Alles um uns herum: Häuser, Straßen, Verkehr, Kleidung, Kommunikation – bis hin zu Pflanzen und Tieren basiert heute auf Mathematik. Nicht der ungezügelte Kapitalismus, sondern die Pythagorer mit ihrer idiotischen Verheiligung der Zahlen sind schuld. Das wäre ein sinnvolles HKW-Anschlußprojekt: über die Sekte des Pythagoras, die in der Sowjetunion mit ihren üppigen Mathematiker-Züchtungsprogrammen bis heute überlebt hat.

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