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FAMILIENPORTRÄT Mit Sehnsucht kennt sich Autorin und Regisseurin Sonja Heiss aus. Ihr Romandebüt „Rimini“ ist mit schwarzem Humor durchsetzt. Ein Glas Rosé zur Kühlung täte beim Lesen gutIn diesem Schreiben möchte man schwimmen

Dem Kladderadatsch entfliehen und … sich auf dieses Handtuch hier legen. Wär gut, oder? Foto: Ferdinando Scianna/Magnum/Agentur Focus

von Laura Ewert

Sonja Heiss sitzt in der Sonne beim Italiener in Prenzlauer Berg und trägt ein geblümtes Kleid, das sehr teuer oder sehr billig sein könnte. Bekommt ein Glas Weißwein zu ihrer Pasta, obwohl sie keines bestellt hat. Raucht, obwohl sie eigentlich aufgehört hat. Sonja Heiss guckt. Sonja Heiss sagt: „Ich will mit meinen Büchern nicht die Welt erklären, das überlasse ich den Männern.“ Und lächelt überlegen. Dann weiß man schon sehr viel über sie. Sie mag vielleicht wenig erklären, aber wenn man sie liest, weiß man plötzlich alles. Bis man es wieder vergisst.

Denn vielleicht kennt sich niemand so gut mit Sehnsucht aus wie Sonja Heiss. Mit dem Gefühl des Nichts, dem Hunger auf alles. Dem Wunsch, spontan nach Italien zu fahren, in einem Auto, in dem man die Scheibe nicht hochkurbeln kann. Dem Wunsch, mit einem Menschen Sex zu haben und Bücher lesen zu können. Dem Gefühl, dass da noch etwas ist, für das es sich lohnt, aufzustehen. Der falschen Annahme, andere hätten den Mut, Sicherheit gegen Glück einzutauschen. Unsere Wohlstandsexistenz zwischen schönem Schwelgen und zweifelnder Zerrissenheit.

Sonja Heiss hat darüber schon geschrieben: über das Gefühl, wenn Kinder auch nicht glücklich machen, über die innere Panik, wenn man erfährt, dass auch Fruchtfliegen Depressionen haben. Wie es gleichermaßen ängstigt und beruhigt, dass da draußen ungezählte Menschen mit Mikroproblemen herumlaufen. Das hat sie auf brutalst charmante Art in ihrem 2011 erschienen Kurzgeschichtenband „Das Glück geht aus“ beschrieben. Hintendrauf stehen Blurbs von Helene Hegemann und Miranda July. Die sind kein schlechter Referenzrahmen, weil auch sie sich mit Sehnsucht und ihrer dunklen Seite auskennen und weil auch sie interdisziplinär wirken.

Mit der Beschreibung, wie jemand eine ­Zigarette dreht, kann Sonja Heiss ganze Bio­grafien erzählen

Denn Sonja Heiss hat auch die Filme „Hotel Very Welcome“ und „Hedi Schneider steckt fest“ gemacht. In Letzterem geht es um Panikattacken oder wie es ist, wenn die Welt auseinanderfällt. In „Hotel Very Welcome“ gibt es unter anderem Szenen mit Telefonaten zwischen einer europäischen Travellerin und einem thailändischen Reisebüro, die das Scheitern des Versuchs zeigen, einen Flug – irgendeinen Flug – zu buchen; sie gehören zu den besten der deutschen Kinogeschichte. Über Heiss’ Filme sagt man, sie seien tragikomisch; das heißt, dass sie sich mit Macken beschäftigen, mit der Schönheit des Scheiterns, mit dem Kichern, das beim Weitergehen entsteht.

So ist das auch in ihrem wunderbaren Romandebüt. „Rimini“ ist ein Familienpor­trät. Es geht um Mutter, Vater und deren zwei Kinder samt Anhang, deren Probleme nicht überschaubar, aber doch sehr lebensnah sind: Zwangsstörungen, unerfüllte Liebe, übererfüllte Liebe, unerfüllter Kinderwunsch, Nähe-Distanz-Schwäche und all der andere Kladderadatsch, den man so zur Beschäftigung mit sich he­rumschleppt und an dessen Ende immer Trennungen, Tode, Entscheidungen stehen.

Sonja Heiss schreibt das auf. Nicht psychologisierend, aber behutsam. Gleichzeitig fast abgeklärt, sodass die Geschichte zur schwarzen Komödie wird, wenn Sohn Hans erst seine Analytikerin stalkt, weil ihm seine Anwaltskarriere entgleitet, und er dann seine Frau verlässt. Wenn Bitzi, der Vogel von Hans’ Vater, einen der dramatischsten Tode der Literaturgeschichte stirbt. Dazwischen finden sich die ehrlichsten und schamlosesten Sexszenen, weil Hans’ Schwester Masha mit 39 beschließt, ein Kind zu bekommen. Und dann gibt es noch Mutter Barbara und ihre Lebenslüge.

Mit der Beschreibung, wie jemand eine Zigarette dreht, kann Sonja Heiss ganze Biografien erzählen. Ihre Sprache ist direkt, hat Witz. Zum Geldverdienen dreht sie auch manchmal Werbung. Kürzlich mit einem Schauspieler, den die Rezensentin mal in einem Jugendbett küsste. Kurzer Austausch darüber: Heiss fragt, wie die Bettwäsche denn aussah. Dann sagt sie: „Wenn du den Typen da drüben an dem Tisch lange genug anguckst, wirst du etwas finden, was du aufschreiben kannst.“

Sonja Heiss’ Bücher und Filme sind leise Geschichten mit lauten Details. Sie hat die Fähigkeit, Dingen Bedeutung beizumessen. Vielleicht verläuft die Grenze zwischen den Menschen nicht nur zwischen oben und unten, sondern auch zwischen denen, die Menschen lieben, und denen, die sich vor ­ihnen ekeln. Sonja Heiss beobachtet die Menschen wie eine, die sie liebt. Und fühlt so viel wie eine, die hasst. „Ich habe mal so einen Hochsensiblentest im Internet gemacht. Ab 50 Punkten war man hochsensibel, ich hatte 95. Das ist anstrengend, aber hilft beim Schreiben.“

In diesem Schreiben möchte man schwimmen. Und sich ein Glas kühlen Rosé an die Stirn halten. In Italien natürlich, Rimini vielleicht. Auch so eine Sehnsucht. Sonja Heiss sagt: Sehnsucht hält uns am Leben.

Sonja Heiss: „­Rimini“. Kiepen­heuer & Witsch, Köln 2017, 400 Seiten, 20 Euro

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