Keine Macht den Volksvertretern

Venezuela Die neue Verfassunggebende Versammlung zieht alle Vollmachten an sich. Den gewählten Abgeordneten wird der Zutritt zum Parlamentsgebäude verwehrt

Im Sitzungssaal des Parlaments tagt jetzt die Verfassunggebende Versammlung Foto: Ariana Cubillos/dpa/ap

Von Jürgen Vogt
und Bernd Pickert

BUENOS AIRES/BERLIN taz | In Venezuela hat die auf Betreiben von Präsident Nicolas Maduro entstandene Verfassunggebende Versammlung (VV) die Alleinherrschaft übernommen. Am Dienstag billigten die 545 Mitglieder einstimmig ein Dekret, das ihnen alle staatlichen Gewalten überträgt. Begründet wird die Anordnung mit der aktuellen Verfassung. „Die bestehenden Gewalten können die Entscheidungen der Verfassunggebenden Versammlung in keiner Weise verbieten“, heißt es in Artikel 349.

Erstmals fand die Sitzung der Verfassunggebenden Versammlung in dem halbmondförmigen Plenarsaal statt, der eigentlich dem Parlament vorbehalten ist. Einheiten der Nationalgarde waren in Begleitung der VV-Präsidentin Delcy Rodríguez in der Nacht auf Dienstag in das Parlamentsgebäude eingedrungen und hatten es abgeriegelt. Seither wird den Abgeordneten der Nationalversammlung der Zugang verwehrt. Noch am Montag hatte das Parlament mit der Mehrheit der Opposition beschlossen, keine Entscheidungen der Versammlung anzuerkennen.

Damit ist ein Prozess praktisch abgeschlossen, der unmittelbar nach dem Wahlsieg der Opposition bei den Parlamentswahlen im Dezember 2015 begonnen hatte. Zum ersten Mal seit dem ersten Amtsantritt von Hugo Chávez im Februar 1999 hatte der Chavismus eine Wahl verloren, und das gleich krachend: Sogar eine Zweidrittelmehrheit hatte die Opposition in der Nationalversammlung erringen können. Und während es in all den Jahren zuvor meist die Oppositionsminderheit war, die sich an die von der Verfassung vorgegebenen Spielregeln nicht zu halten bereit war, brachen nun beim Chavismus alle Dämme.

Unter fadenscheinigen Argumenten wurde zunächst das Mandat einiger Abgeordneter nicht anerkannt, so dass die Zweidrittelmehrheit dann knapp verfehlt war. Und als die Opposition das nicht mitmachte, erklärten Regierung und der chavistisch besetzte Oberste Gerichtshof gleich alle Entscheidungen des Parlaments für null und nichtig.

Allerdings: Auch die Opposition war nicht angetreten, um in einem System der konstruktiven Gewaltenteilung die Regierung zu Kompromissen zu zwingen. Gleich in der ersten Sitzung verkündete der damals frisch gewählte Parlamentspräsident Henry Ramos Allup, man werde binnen sechs Monaten einen Plan vorlegen, um die Regierung vorzeitig auszuwechseln.

Mit dem jüngsten Dekret sind der Opposition alle legalen Wege verschlossen

Nun war klar: Eine nach demokratischen Spielregeln funktionierende Koexistenz von oppositioneller Legislative und chavistischer Exekutive würde es nicht geben. Seither hat die Opposition alle Mittel auszuschöpfen versucht, die ihr von der Verfassung gegeben sind – und ist immer wieder an der Bereitwilligkeit der Regierung gescheitert, die Verfassung unter Mithilfe des Obersten Gerichtshofs zu brechen.

So waren für die Durchführung eines Abwahlreferendums für Maduro alle Voraussetzungen erfüllt – es fand dennoch nicht statt. Die Regionalwahlen, die eigentlich im Dezember letzten Jahres hätten stattfinden müssen, wurde auf unbestimmte Zeit verschoben und sollen jetzt womöglich im Dezember diesen Jahres stattfinden – wobei in einigen Bundesstaaten bestimmte Oppositionsparteien ausgeschlossen sind. Präsident Maduro hätte seinen jährlichen Rechenschaftsbericht 2016 laut Verfassung eigentlich vor dem Parlament vortragen müssen – und sprach stattdessen vor dem Obersten Gerichtshof. Mit der Einrichtung der Verfassunggebenden Versammlung und ihrem Allmachtsdekret sind dem gewählten Parlament und der Opposition nun alle legalen Wege endgültig verschlossen.

Venezuelas Regierung isoliert sich mit diesem Kurs zunehmend. Am Dienstag bekräftigen 17 amerikanische und karibische Staaten bei einem außerordentlichen Treffen in Peru ihre Nichtanerkennung der Verfassunggebenden Versammlung, darunter Argentinien, Brasilien, Kolumbien, Mexiko und Kanada. Sie verurteilten den „Bruch der demokratischen Ordnung“ und solidarisierten sich mit der demokratisch gewählten Nationalversammlung. Die USA hatten keinen Vertreter entsandt.