Berliner Szenen: Hochfrequentes Tschilpen
Mauersegler
Vor einer halben Stunde aßen wir bei einer Kitafreundin unseres Sohns zu Abend. Nicht zum ersten Mal erlebten wir ein unharmonisches Crescendo: erst leises freies Spiel, der Versuch der Spielenden, die beiden umeinander kreisenden Planeten in eine vertikale Umlaufbahn zu bringen, um schließlich auf der Erde, zu Tisch, zu landen. Ein Weltraumspaziergang, der irgendwann aufgrund Sauerstoffmangels abgebrochen werden musste. Darauf folgte lautes freies Spiel. Ein kometenhafter Parforceritt durch nahe und ferne Regionen des Alls, also der Wohnung. Mein Sohn, dachte ich kurz, stößt mit seiner Chuzpe in Regionen vor, in die ich mich nicht einmal hineinträumte. Dann der ungeordnete Rückzug, nachdem der Doppelplanet auf einmal schlingerte, an Fahrt verlor, um rasant wieder durchzustarten, wobei die beiden Teile des Systems krachend aneinanderstießen.
Jetzt, am Schreibtisch, herrscht wieder Ruhe. Mein kleiner Planet schläft, in den Armen die Reste eines Ikea-Schweins. Es ist stickig in der Wohnung. Ich reiße das Fenster im Arbeitszimmer auf, das bald dem Kinderzimmerwunsch geopfert wird. Draußen im Hof hochfrequentes Tschilpen. Der Mauerseglernachwuchs im Nest unter dem Trauf reklamiert Nahrung. Es dauert nicht lange und hochmotivierte Flugartisten (ihre Eltern) stürzen sich in die Nacht, schrammen im Landeflug todesmutig an den Mauern entlang. Ich bewundere Eltern, die immer alles perfekt machen.
Gerade ist ein kleiner Käfer gegen meine Schreibtischlampe geflogen und torkelt jetzt über den Tisch. Ist das einer der Pelzkäfer, der mir Löcher in die Wollpullis frisst?
Auf einmal sind die Mauersegler verstummt! Ich höre wieder die Nachbarn, die betrunken und rumpelnd die Haustür ins Schloss fallen lassen und dabei lallen. Unverantwortliche Kinderfeinde! Timo Berger
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