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Die Frage nach der Rechtfertigung von Gewalt muss gesellschaftlich gestellt werden. Die Diskussion über die G20-Proteste kommt allerdings über das Spektakel nicht hinausMacht der Gewalt, Ohnmacht der Fantasie

von Roger Behrens

„Eine republikanische Regierung hat die Tugend zum Grundsatz; wo nicht, den Terror. Was wollen jene, die weder Tugend noch Terror wollen?“

(Louis Antoine de Saint-Just)

Der Himmel ist von dichten Rauschschwaden erfüllt, laut und ungestüm drängen sich mit Säbeln, Gewehren und Pistolen Bewaffnete nach vorne auf eine Barrikade, die aus Steinen und Balken errichtet wurde; sie gehen über Leichen, die blutend am Boden liegen und ihren Weg säumen.

Es ist eine grausame Szene, in deren Zentrum – als Allegorie – die Freiheit steht: eine Frau, in der linken Hand eine Muskete mit Bajonett, während sie mit der rechten Hand die Trikolore in den Himmel hält. Eugène Delacroix malte dieses Bild, eine Momentaufnahme der Julirevolution 1830, wo sich über drei Tage die Pariser Bevölkerung gegen die verfassungswidrigen Verordnungen, Änderungen des Wahlrechts und Pressezensur, zur Wehr setzte. Am zweiten Tag des drei Tage dauernden Aufstands sollen im Pariser Stadtgebiet über 6.000 Barrikaden errichtet worden sein.

Diese Gewalt, die Delacroix in seinem berühmten Gemälde eingefangen hat, verbucht die Geschichtsschreibung als Fortschritt: Die Freiheit führt das Volk.

Gewalt ist die treibende Kraft der Geschichte, die Geburtshelferin der Revolution (Marx); dem bürgerlichen Zeitalter ist sie konstitutiv eingeschrieben, sie strukturiert die Epoche. Es gehört zum Fortschritt der bürgerlichen Gesellschaft, dass diese strukturierende Gewalt zur strukturellen Gewalt wird, schließlich Gesellschaft scheinbar quasi befriedet wird durch die Überführung der Gewaltverhältnisse in Verwaltung.

Als revolutionäre Kraft gegen die historische Reaktion und Regression kommt der Gewalt eine nachgerade kathartische Wirkung zu. So erkannte Marx, „daß sowohl zur massenhaften Erzeugung dieses kommunistischen Bewußtseins wie zur Durchsetzung der Sache selbst eine massenhafte Veränderung der Menschen nötig ist, die nur in einer praktischen Bewegung, in einer Revolution vor sich gehen kann; daß also die Revolution nicht nur nötig ist, weil die herrschende Klasse auf keine andre Weise gestürzt werden kann, sondern auch, weil die stürzende Klasse nur in einer Revolution dahin kommen kann, sich den ganzen alten Dreck vom Halse zu schaffen und zu einer neuen Begründung der Gesellschaft befähigt zu werden.“

Gewalt ist reine Gewalt, von der Walter Benjamin 1929 schreibt: „Die mythische Gewalt ist Blutgewalt über das Leben um ihrer selbst, die göttliche reine Gewalt über alles Leben um des Lebendigen willen.“

Dass Gewalt als Gegengewalt gar nicht als Relation von Mittel und Zweck zu versachlichen ist, weil sie durch das notwendige Ziel ihrer Abschaffung bestimmt ist.

So konnte Herbert Marcuse noch ohne Weiteres argumentieren, dass „im Vergleich zur normalen alltäglichen Gewalt, die größtenteils ungestraft und unbemerkt vor sich geht, der Studentenprotest gewaltlos“ ist.

Ähnlich hatte schon Merleau-Ponty in „Humanismus und Terror“ konstatiert: „Sich den Gewalttätigen gegenüber der Gewalt zu enthalten heißt sich zu ihrem Komplizen zu machen. Wir haben nicht die Wahl zwischen Unschuld und Gewalt, sondern nur zwischen verschiedenen Formen der Gewalt. […] Die Gewalt ist die allen Regimen gemeinsame Ausgangssituation. Wenn man jegliche Gewalt verdammt, stellt man sich außerhalb des Bereichs von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, man verflucht die Welt und die Menschheit – ein heuchlerischer Fluch, denn der ihn ausspricht, hat, da er schon gelebt hat, auch schon die Spielregel akzeptiert.“

Die russische Revolutionen von 1905, 1911, die Oktoberrevolution 1917, die chinesische Revolution in den 1930er und 1940er Jahren, Spanien 1936 waren von Gewalt geprägt, die die Revolution als Verzweiflungstat erkennen lässt. Es waren gleichwohl „Linke“, Sozialisten, Anarchisten, Kommunisten, die die Gewaltfrage gestellt haben, die Gewaltverhältnisse in Hinblick auf Legitimität und Moralität pro­blematisierten. Georg Lukács benennt das 1919 als Problem von Taktik und Ethik: „Jeder, der sich gegenwärtig für den Kommunismus entscheidet, ist also verpflichtet, für jedes Menschenleben, das im Kampf für ihn umkommt, dieselbe individuelle Verantwortung zu tragen, als wenn er selbst alle getötet hätte.“

Die Gewaltfrage, gerade als Machtfrage in Auseinandersetzung um eine freie Gesellschaft gestellt, kann nur begrifflich gefasst werden, als Reflexion über das Verhältnis von Theorie und Praxis.

Auch die Revolte muss ad hominem demonstriert werden. Und das heißt, als vorläufige ­Wiederaufnahme der Gewaltfrage in emanzipatorischer Absicht, nichts ­anderes als Rück­gewinnung der ­Fantasie, um mit ihr den Menschen als ­Menschen an die Macht zu bringen

Was sich allerdings (spätestens) mit dem Mai 68 abzeichnete, war die Suspendierung nicht nur der Praxis (Adorno: „Praxis ist auf unabsehbare Zeit vertagt“), sondern auch die Liquidierung der Theorie, nämlich die Ersetzung des Begriffs, der begrifflichen Reflexion, durch das Bild, also die bloße Repräsentation von Macht und Gewalt. Die bürgerliche Gesellschaft, die ihre hehren Ideale der Humanität längst im Terror begraben hatte – zwei Weltkriege, Auschwitz, Hiroschima, Genozide, und immer wieder Krieg, Hunger, Elend, Armut –, verwandelte sich in eine Gesellschaft des Spektakels, die unablässig die Ideologie inszeniert, dass politische und ökonomische Gewalt gebändigt sei, zurückgedrängt aufs Naturverhältnis oder an die Peripherie der Zivilisation, und mehr noch umgeschichtet in die kulturelle Bilderproduktion von Kino, Fernsehen, Internet: In demokratisch verfassten Gesellschaften verlagerte sich die Ästhetisierung der Politik erfolgreich in die Sphären individueller Vergnügen, wurde so auch die Gewalt ästhetisch ins allgemeine Unterhaltungsprogramm implementiert.

Rückgekoppelt ist das mit den Images, die seit den Protestzeiten der späten sechziger Jahre (links)politische Gewalt illus­trie­ren: Nicht mehr um Taktik und Ethik geht es hier, sondern um Übersetzungen realer Gewaltverhältnisse in Bilderordnungen von Gewalt, um einen imaginären Diskurs über Tugend und Terror, bei dem es lediglich – wie der Psychoanalytiker Karl-Josef Pazzini im Vorfeld des G20 vorhersah – um Deutungshoheit geht: „Erkennbar wird die Macht und dann auch die Gewalt des Symbolischen. Das scheint mir der eigentliche Reiz der Veranstaltung zu sein. […] Es entsteht die heimliche Sehnsucht, dass es doch da Gewalttäter gäbe, klammheimlich, die doch bitte als böse Buben das Geschäft der eigenen Wut übernähmen. […] Dann brauchen wir nicht über das Gewaltpotenzial der anwesenden Herrscher nachzudenken, nicht über die inhärente Gewaltförmigkeit des Kapitalprozesses.“

Der öffentliche Diskurs, der zu erwarten war, weil er die Bilder bekommen hat, die er herbeisehnte, ist überdies nur zum Schein eine Debatte, in der Moralität und Legitimität der Gewalt gesellschaftlich geprüft werden: Tatsächlich erschöpfen sich die Argumente in einer Diskussion, die lediglich um eine spektakuläre Figur des Rechtfertigungszwangs geht (die zugleich für jedes allgemeine Gewaltverhältnis, das die soziale Normalität von Alltag bis Ausnahmezustand durchwirkt, tabu ist – sonst wäre allein ein Treffen der politischen Gewalttäter vom Schlage Trumps und Erdoğans gar nicht denkbar, geschweige denn durchführbar; sonst wären zudem, um ein anderes Beispiel zu geben, allein die Worte „Flüchtlinge“, Flüchtlingsproblem“, „Flüchtlingskrise“ unaussprechbar). Was nämlich in der medial bloß am Bild exerzierten Gewaltfrage mit dem Rechtfertigungszwang ausgeblendet wird, systematisch zudem bei denen, die das Gewaltmonopol für sich in Anspruch nehmen (ohne es nach demokratischer Verfassung tatsächlich zu verteidigen), ist das, was lapidar Schamgefühl heißt (das ist übrigens eine der zentralen Diagnosen in Herbert Marcuses „Eindimensionalem Menschen“ von 1964: dass dem repressiven Bewusstsein die Scham abhandengekommen ist).

Gewaltverhältnisse als Machtverhältnisse sind obszön; bei keiner noch so lapidaren sozia­len Ungerechtigkeit, erst recht nicht bei Krieg, Hunger, Elendsnot gelingt es, über den Zusammenhang von Macht und Gewalt so aufzuklären, dass Menschen handlungsfähig werden und die Gewalt besiegen.

Es wiederholen sich bloß die Bilder. Die Zeiten, in denen der Gewalt kathartische Wirkung zukam, weil sie eben auch ein Moment von Freiheit bedeutete, sind endgültig vorüber; und das gilt für jede Gewalt, die als soziales Verhältnis unaufgeklärt bleibt, weil schließlich nicht einmal Interesse daran besteht, ihre Dynamik zu begreifen. Das Gemeinsame der von Delacroix gemalten Barrikade der Julirevolution 1930 und der Aufnahmen brennender Barrikaden bei den G20-Krawallen in Hamburg 2017, die Brutalität der Aktion, wird verklärt. Das Scheitern der Linken setzt sich hier fort, weil es in diesem Jahrhundert noch nicht gelang, eine dem Zustand der Welt und ihrer möglichen Rettung angemessene Praxis zu entwickeln, die bisher nur in einer kritischen Theorie der Gesellschaft einen vorsichtigen Entwurf gefunden hat.

Für eine emanzipatorische Linke stellt sich die Gewaltfrage als Machtfrage im 21. Jahrhundert in Bezug auf Form und Inhalt der wirklichen Bewegung. Wenn der reale Humanismus es mit der Radikalität ernst meint, nämlich als An-die-Wurzel-Gehen – und die Wurzel ist für den Menschen, nach Marx‘ Worten, niemand anderes als der Mensch selbst –, dann muss auch die Revolte ad hominem demonstriert werden. Und das heißt, als vorläufige Wiederaufnahme der Gewaltfrage in emanzipatorischer Absicht, nichts anderes als Rückgewinnung der Fantasie, um mit ihr den Menschen als Menschen an die Macht zu bringen.

Roger Behrenslebt seit 50 Jahren, davon die meiste Zeit in Hamburg mitten im Gefahrengebiet.

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