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Milchige Welten und Lebenssaftspritzerei

SINNESERFAHRUNG Beim „Immersion“-Programm der Berliner Festspiele taucht man in virtuelle Realitäten ein und gibt sich dem Überforderungstheater Vegard Vinges hin. Zwei Ortsbesuche

Das muss man aushalten können: Vegard Vinges und Ida Müllers Arbeit zur „Immersion“ Foto: Nationaltheater Reinickendorf

von Sascha Ehlert

Nach knapp einer halben Stunde wirkt die Verbindung aus rhythmischem Trommeln und maschinellem Geratter körperlich: Eine innere Unruhe hat sich im Reporterkörper ausgebreitet, man wippt im Takt mit, umklammert den leeren Bierbecher links und benutzt die rechte Hand, um sanft die Umherstehenden dazu zu bewegen, einem Platz zu machen. Man linst zum dritten Mal durch ein kleines Guckloch in einen düsteren Gang, man blickt zum vierten Mal durch eine Fensterscheibe, hinter der sich ein Museumsraum ausbreitet, an dessen Wände alle Fußballnationalspieler, die an der Fußballweltmeisterschaft 1982 teilgenommen haben, als gemalte Panini-Bildchen hängen.

Man befindet sich an einem Ort, der gleichzeitig wahnsinnig schön und sehr dunkel ist und denkt: „Danke, Thomas Oberender. Danke dafür, dass du dem norwegischen Theatermann Vegard Vinge und der deutschen Bühnenbildnerin Ida Müller mindestens zwei prall gefüllte Koffer mit Steuergeldern überreicht hast!“ Thomas Oberender ist der Intendant der Berliner Festspiele, auf den dies Spektakel zurückgeht. Auch zwölf Stunden später denkt man das noch, nachdem Vegard Vinge, Ida Müller sowie ein großes Ensemble aus Technikern, Musikern und Schauspielern einem eine 12-Stunden-Inszenierung irgendwo zwischen „Hamlet“ und „Baumeister Solness“ beschert haben.

Die allumfassende Sinnes­erfahrung hat sämtliche Fragen für die Dauer einer langen Nacht ins Unterbewusstsein geschoben, das Ich auf Autopilot geschaltet und einen zum willenlosen Teilnehmer einer rücksichtslosen, faszinierenden und unheimlichen Theatershow gemacht. Der Ort dafür ist das sogenannte Nationaltheater Reinickendorf, welches eigens für Vegard Vinge seine Pforten in Berlin-Reinickendorf eröffnet hat.

Im Angesicht der künstlerischen Wucht dieses Abends hat es das Hauptprogramm, „Limits of Knowing“, denkbar schwer. Angelegt als Ausstellung mit Performances und Diskursveranstaltungen, ist es im ersten Stock des Martin-Gropius-Baus angesiedelt. Die Programmidee und der Terminus Immersion gehen auf das Motto des Künstlers, Kunsttheoretikers und Erfinder der sogenannten Happenings Allan Kaprow zurück: „Go in instead of look at.“ Bereits seit 2016 nimmt man an den Festspielen diesen Satz als Ausgangspunkt für Erkundungsreisen in sogenannte virtuelle Realitäten her. Bewusst wird der Anspruch formuliert, „das Neue nicht nur Playern wie Google und Facebook zu überlassen, sondern eigene, emanzipative Visionen und Formen des künstlerischen Durchlebens zu entwickeln“, wie es im Programmheft heißt.

Erlebnisparcours undhaptisches Feld

Folgerichtig gehören zu den mutmaßlich „immersiven“ Tauchgängen in fremde Welten, die man aktuell im Martin-Gropius-Bau unternehmen kann, vor allem solche, die mit moderner Technologie arbeiten: Apps, Virtual-Reality-Brillen und Overalls, ausgestattet mit Sensoren. Ausflüge mit Letzteren sind aus einer Zusammenarbeit des kanadischen Künstlers und Professors für computerbasierte Kunst Chris Salter mit dem italienischen Künstler TeZ (bürgerlich: Maurizio Martinucci) entstanden: eine Art Erlebnisparcour. Dafür schlüpft man in besagten Sensor-Overall. Dieser verdeckt zum Teil auch das Gesicht, sodass man vor den Augen eine Art milchigen Schleier hat. Sprich: Man kann sich auf seine Augen nicht mehr verlassen und muss zunächst mal eine alternative Wahrnehmung entwickeln. Dabei helfen die Sensoren, die einem über Vibration vermitteln, wo’s langgeht.

Wer in Vegard Vinges Theater geht, der muss mit allem ­rechnen

Wie das Ganze für die Wahrnehmung funktioniert, ist schwer zu formulieren: Man ist nicht blind, aber man „sieht“ auch nicht so, wie man es normalerweise tut. Man erlebt sich und seine Umwelt, in diesem Fall natürlich ein streng begrenzter Bereich in einem Kunstmuseum, jedenfalls tatsächlich anders. Das immersive Experiment von Salter und TeZ ist also definitiv geglückt, aber funktioniert es auch als künstlerisches Statement? Möchte es überhaupt eines sein? Wenn überhaupt, dann scheint das „Haptic Field 2.0“ der Versuch der Schaffung einer Welt zu sein, die man ganz allein bewohnt. Eine Welt also, die nur einen Bewohner, mich, kennt und die Vereinzelung des Menschen bewusst auf die Spitze zu treiben scheint. Den Beweis dafür, dass auch Technikkunst Gefühlsregungen auslösen kann, bleiben Salter und TeZ jedoch schuldig.

Ähnlich interessant ist „Nachlass“, der Beitrag von Rimini Protokoll. Für die Immersion hat das deutsch-schweizerische Kollektiv acht Räume eingerichtet, die die Gruppe selbst als „Mausoleen des 21. Jahrhunderts“ bezeichnet. Jeder Raum ist dabei einem Menschen gewidmet, der kurz vor seinem vermuteten Lebensende steht. Rimini Protokoll hat dafür beispielsweise eine Angestellte, eine EU-Botschafterin oder einen Base-Jumper begleitet und aufgezeichnet, was diese über das denken, was sie der Nachwelt hinterlassen werden.

Auch hier schafft die Mischung aus persönlichen Gegenständen und sehr persönlichen Erzählungen eine gewisse Sogwirkung. Natürlich berührt es einen, was diese Menschen zu erzählen haben. Allerdings: Hat man vorab die Programmtexte gelesen, weiß man bei „Nachlass“ und ebenso bei „Haptic Field 2.0“ eigentlich bereits vorher, was man erleben wird. Platz für Ungeplantes, Überraschendes lässt keine dieser Arbeiten.

Bei einem Besuch des Nationaltheaters Reinickendorf hingegen geht man eine weit gefährlichere Abmachung ein: Man setzt sich der Willkür eines Regisseurs aus, für den zur Inszenierung auch der Zuschauer gehört. Wer in Vinges Theater geht, der muss mit allem rechnen. Beispielsweise, dass man sich in der ersten Reihe an einen Tisch setzt und am Ende mit Kunstblutklecksen auf der Kappe nach Hause geht – was, wie jene, die seine Henrik-Ibsen-Bearbeitungen im Volksbühnen-Prater vor einigen Jahren gesehen haben, noch ein harmloser Kollateralschaden ist.

Richtig, Vinge-Theater ist nichts für schwache Nerven: Der norwegische Absolvent der Berliner Universität der Künste zelebriert in seinen stets unzählige Stunden dauernden Inszenierungen eine Vermengung der Lebenssaftspritzerei der Wiener Aktionisten mit einem durch Frank Castorf beeinflussten Mut zu Überlänge und frei assoziierender Vermengung verschiedenster Ursprungstexte. Dies wird kombiniert mit verschiedensten Popkultureinflüssen, Wagner-beeinflusstem Maximalismus und den genialen Bühnenbildern von Ida Müller, die eine Art kindlich-kunterbuntes Horroruniversum kreieren.

Machtbesoffene, brutale Alphamänner

Man beachte das Joy-Division-T-Shirt: Vegard Vinge, Ida Müller, „Immersion“ Foto: Nationaltheater Reinickendorf

Wer sich auf dieses Überforderungstheater einlässt, wird zwangsläufig verschluckt von dieser Welt, in der alle Figuren mit verzerrten Stimmen sprechen. Der alternde Patriarch Baumeister Solness sieht aus wie Heiner Müller, und zwei eher zartbesaitete Söhne – Shakespeares Hamlet und die Ibsen-Figur Ragnar Brovik – versuchen sich in einer Welt der Baumeister, bei Vinge eine Chiffre für machtbesoffene, brutale Alphamänner, zu behaupten. So weit, stark simplifiziert, einer der Handlungsfäden, der sich durch den zwölfstündigen Abend zieht, in dem es eigentlich nur um eines geht: alles.

Vegard Vinge weiß natürlich, dass er als grenzenlose Freiheit genießender Regietitan selbst ein Baumeister ist. Obwohl er vielleicht einst eher der Junge war, der zu Anfang einer langen Theaternacht im Joy-Division-T-Shirt auf dem Boden seines Zimmers sitzt und eine Schallplatte von Madonna hört. Überhaupt muss diese mit zahllosen 80er-Jahre-Popkultur-Referenzen gespickte Theaterverausgabung natürlich auch eine sehr persönliche Angelegenheit sein für den Regisseur, der bis heute extrem öffentlichkeitsscheu auftritt, obwohl er in seinen Inszenierungen, wie alle Spielerinnen und Spieler maskiert, stets auch selbst eine große Rolle spielt.

Wie in radikaler Gegnerschaft zu den bei „Limits of Knowing“ gezeigten Arbeiten scheint Vinge brutal persönlich ohne Ziel und Masterplan loszugehen und sein Theater jeden Abend neu zu entwerfen: Die Versatzstücke, mit denen die ersten drei Vorstellungen arbeiteten, waren zwar größtenteils die gleichen, allerdings setzte der Regisseur sie Abend für Abend scheinbar willkürlich neu zusammen. Sicher sagen lässt sich allerdings: Das Nationaltheater Reinickendorf entwirft eine grausame Welt, die zwar den Regeln einer strengen Autorität gehorcht, aber dennoch ganz ohne Computer ein sehr subjektives, im ursprünglichen Wortsinne virtuelles Erleben ermöglicht. Dieses sehr laute, grelle, finstere Theater nimmt einen so sehr gefangen, dass man kaum reden kann und schließlich zwangsläufig ganz bei sich selbst landet. Das muss man aushalten können.

„Immersion“, noch bis 31. Juli in Berlin, Infos und Programm: www.berlinerfestspiele.de

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