heute in Bremen: „Diffuse Solidarität“
Vortrag Michi Knecht spricht über Anonymität als gesellschaftliches Bindeglied
56, ist Professorin für Ethnologie und Kulturwissenschaft in Bremen.
taz: Frau Knecht, ist es noch möglich, anonym zu sein?
Michi Knecht: Sicherlich ist es nicht mehr so einfach. Das viel beschworene Ende der Anonymität gibt es aber nicht. Wir erleben gegenwärtig eher eine Umgestaltung der Anonymität.
Aber heißt Anonymität nicht immer unerkannt sein?
Das stimmt. Es kommt aber drauf an, in welcher Form Anonymität gewährleistet wird. Historisch neu ist, dass neben Namenlosigkeit und Gesichtslosigkeit Anonymität vermehrt über eine Nichtrückverfolgbarkeit ermöglicht wird. Und die ist für manche gesellschaftlichen Beziehungen entscheidend.
Ist Anonymität nicht das Gegenteil von sozialer Teilnahme?
Sie ermöglicht besondere soziale Formen und Interaktionen. Das sehen wir zum Beispiel beim Blut- oder Samenspenden, als eine Art der anonymen Nichtbeziehung. Hier wird etwas gegeben, ohne dass die EmpfängerInnen das erwidern können. Da ist interessant, wie die anonyme Samenspende in die Identitätsbildung des Heranwachsenden integriert wird. Die Nichtrückverfolgbarkeit stärkt zudem gesellschaftliche Gruppen.
Wie das, wenn doch alles anonym ist?
Ein Beispiel ist die anonyme Sexualität in schwulen Subkulturen. Durch das Verschweigen der eigenen Person kann sie ungeachtet von Klassen- und Bildungsgrenzen ausgelebt werden. Das kann zu einer diffusen, aber sehr ausgeprägten Solidarität untereinander beitragen.
Interview Florian Schlittgen
18 Uhr, Rotunde im Cartesium, Enrique-Schmidt-Str. 5
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