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Zehn Gebote sind nicht genug

ZEUGEN JEHOVAS Die Familie Ullmann richtet ihr Leben nach 600 Geboten aus. Wie arrangieren sie sich damit? Ein Ortsbesuch

VON SEYDA KURT

So eine Bilderbuchfamilie gibt es nicht mal mehr in der Werbung von Schwäbisch Hall. Klaus Ullmann ist Zeuge Jehovas in der vierten Generation. Er ist mit seiner religiösen Gemeinschaft groß geworden. Die Zeugen Jehovas sind für Ullmann wie eine große Familie. An diesem Samstagmittag sitzt er mit seiner Frau, seinem Sohn und seiner Schwiegertochter im Wohnzimmer in Berlin-Rudow. Ullmann trägt Hemd und gebügelte Hose, auch seine Kinder und seine Frau sind festlich gekleidet. Das entspricht dem Dresscode der Zeugen Jehovas. „Unsere Kleidung verrät Achtung vor Gott“, so steht es in einer Broschüre der Religionsgemeinschaft.

Im Hintergrund säuselt klassische Musik, während sie Fragen zu ihrem Alltag beantworten. 600 Gebote gelten bei den Zeugen Jehovas, erklärt Klaus Ullmann. Sind diese Gebote eine Selbstbeschränkung, welche Bedeutung hat für die Familie also das Wort „Nein“? Das wichtigste Gebot sei: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“, sagt Ullmann. Aber noch viel wichtiger sei die Motivation, die hinter dem Gebot stehe: die Liebe zum Schöpfer.

Aber Gebote bedeuten auch Verbote: Welche Situation verbinden Sie mit dem Satz „Nein, ich darf nicht“, Herr Ullmann? Zögernd antwortet er: „Wichtig ist doch, aus welchem Beweggrund man dieses ‚Ich darf nicht‘ sagt.“

Ullmann weicht aus. Typisch Zeugen Jehovas? Vielleicht wird drückt er sich so diplomatisch aus, weil die ganze Familie am Tisch sitzt. Steht er wirklich nur positiv zu den vielen Geboten und entsprechen sie seinen eigenen Vorstellungen? Ullmann beschäftigt sich täglich mit den Geboten, sagt er: „Wir beschäftigen uns täglich mit der Bibel. Die Reflexion endet nicht mit dem Tag, an dem man mit dem Glauben beginnt.“

Daher gebe es bei den Zeugen Jehovas auch keine Kindstaufe. Die Kinder, erzählt Herr Ullmanns Schwiegertochter, sollen eigenständig zum Glauben finden. Aber gerade jungen Menschen müssten die vielen Gebote schwerfallen. Sogar Geburtstagsfeiern mit den Klassenkameraden sind tabu. Das sei auch schon bei den ersten Christen so gewesen, begründet Frau Ullmann.

Auch Ullmanns Sohn beharrt darauf, dass für ihn die Gebote keine Last sind. „Ich habe im Gegensatz zu meinen Freunden nicht mit dem Rauchen angefangen.“

Letzter Versuch, die Bedeutung des „Nein“ für die Familie Ullmann zu ergründen. Herr Ullmann sagt: „Die Regeln engen uns nicht ein. Sie sind ein hilfreicher Maßstab für ein sinnvolles, praktisches Leben.“ Jeder Mensch brauche Ordnung, ergänzt seine Frau. Doch leider werde der Rat der Bibel zu oft außer Acht gelassen. Die Bibel sage uns, wie ein Ehepaar miteinander und mit den Kindern umgehen sollte.

Der Besuch bei Familie Ullmann endet mit gemischten Gefühlen. Das Leben mit dem „Nein“ erfahren sie als Bereicherung. Scheinbar sind Gebote für die Zeugen Jehovas kein Problem.

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