100 Jahre Trickfilmkunst

Kino Das Anime Berlin Festival im Babylon Mitte feiert das Jubiläum eines popkulturell wirkmächtigen Genres

„Akira“ entstand 1988 und war auch außerhalb Japans ein durchschlagender Erfolg Foto: Babylon

von Andreas Hartmann

Ein Junge im Matrosenanzug schreibt etwas an eine Tafel und grüßt danach ein imaginäres Publikum. Gerade mal drei Sekunden lang dauert die 1907 entstandene Animation, die unter dem Titel „Katsudo Shashin“ bekannt wurde. Das Filmchen ist freilich eine Kuriosität, erste japanische Trickfilme mit wenigstens ein paar Minuten Länge sind erst zehn Jahre später entstanden. Die Veranstalter des zweiten Anime Berlin Festivals, das vom 22. Juni bis zum 2. Juli im Kino Babylon Mitte stattfindet, scheinen sich dann auch eher an diesen Frühwerken des japanischen Zeichentrickfilms zu orientieren, wenn sie in diesem Jahr das Jubiläum „100 Jahre Anime“ feiern wollen.

Ein Programm für Anime-Historiker bietet das Festival dennoch nur bedingt. Auf das Zeigen der ganz alten Klassiker wird verzichtet und dennoch wird mit über 40 Filmen ein fantastischer Überblick über das sowohl trickfilmtechnisch und popkulturell so immens wirkmächtige Anime-Genre geboten.

Wer erleben möchte, wie prägend die Anime-Kultur heute ist, die von einer florierenden Zeichentrickfilmindustrie in Japan geprägt wird, die jährlich um die 200 Filme oder Serien produziert, die in riesigen Studios entstehen, muss nur mal eine Comic-Con besuchen, ein Fantreffen und Meet-and-Greet der Unterhaltungsindustrie. Da rennen ein paar Elben aus „Herr der Ringe“ herum und den ein oder anderen Spiderman gibt es sicherlich auch, aber die meisten wollen aussehen wie jemand aus dem Personal von Anime-Serien wie „Dragon Ball“ oder „Sailor Moon“. Ein Hauch Comic-Con soll dann auch beim Anime Berlin Festival zu spüren sein, beim Fantreffen anlässlich des Jubiläums von 25 Jahren „Sailor Moon“.

Die überzeugende Zeichnung eines postatomaren Tokio im Film „Akira“ ist immer noch ­überwältigend

Den Überblick über das ausdifferenzierte Anime-Genre zu behalten, ist nicht leicht. Es gibt zig Subgenres, Animes, die sich speziell an Jungs oder Mädchen richten, Sport-Animes oder Filme, die Mecha genannt werden, und bei denen riesige Roboter eine tragende Rolle spielen. Und natürlich gibt es sogenannte Hentai, Porno-Animes, in denen Aliens mit Tentakeln Sex mit großbusigen Frauen mit Kulleraugen haben oder ähnlich schockierend Transgressives zu sehen ist, wovon Walt Disney nicht einmal zu träumen gewagt hätte. Ein paar besonders explizite und offiziell sogar zensierte Hentais werden auch im Babylon Mitte in zwei „FSK 18 – unzensiert & umsonst“-Filmnächten zu sehen sein.

Wenn man aufgrund der Fülle und Weitschweifigkeit seines Themas sowieso nicht mehr als einen Überblick über sein Sujet bieten kann, fährt man mit der Konzentration auf das Wesentliche nicht schlecht. Somit dürfen bei all den Deutschlandpremieren neuer Anime-Produktionen, die es bei dem kleinen Festival auch zu sehen gibt, natürlich die ganz großen Anime-Meilensteine nicht fehlen. Konkret sind das „Akira“, „Ghost in the Shell“ und „Chihiros Reise ins Zauberland“, drei Filme, die auch im Westen dazu geführt haben, dass Animes als ernstzunehmende Kunstform gelten. „Akira“, basierend auf dem bahnbrechenden Manga von Katsuhiro Otomo, entstand 1988 und war auch außerhalb Japans ein durchschlagender Erfolg. Die Dynamik des Films, seine apokalyptische Atmosphäre und die überzeugende Zeichnung eines postatomaren Tokio ist immer noch überwältigend. Und dass der 1995 entstandene Anime „Ghost in the Shell“ von Mamoru Oshii mit seiner Cyborg-Thematik und dem Aufwerfen von Fragen rund um Künstliche Intelligenz aktueller denn je wirkt, zeigt allein schon die Tatsache, dass gerade auch die erste Realverfilmung des Stoffes mit Scarlett Johannson in den Kinos läuft. Das Babylon Mitte zeigt beide Filme und obendrein noch „Ghost in the Shell 2: Innocence“. Begleitend dazu wird es filmwissenschaftliche Vorträge geben. Mit „Chihiros Reise ins Zauberland“ wird dann noch das Werk gezeigt, mit dem sich das Anime endgültig als Erwachsenenfilm etablieren konnte. Mit der Produktion aus dem Jahr 2001 räumte Regisseur Hayao Miyazaki alles ab, was es an Filmpreisen abzuräumen gibt, vom Goldenen Bären bei der Berlinale bis hin zum Oscar. Der inzwischen in Rente gegangene Meisterregisseur und sein Studio Ghibli gelten spätestens seit diesem Film als Qualitätsgarant für anspruchsvolle Animes. Dass uns japanische Zeichentrickfilmkunst jedoch nicht erst seit diesen Klassikern vertraut ist, sondern eigentlich seit Jahrzehnten, ohne dass wir das so bewusst wahrgenommen hätten, daran erinnert das Anime Berlin Festival dankenswerter Weise auch noch einmal. „Heidi“, „Wicki und die starken Männer“, „Biene Maja“, all diese Trickfilmklassiker aus den Siebzigern sind letztendlich in Japan entstandene Animes. Entsprechend werden ein paar Folgen dieser Serien auch im Babylon Mitte noch einmal im Kino zu sehen sein.

2. Anime Berlin Festival – 100 Jahre Anime: 22. 6.–2. 7., Babylon Mitte, www.babylonberlin.de