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Unterwegs in unserland

On Tour taz.meinland reist seit September letzten Jahres durch die Republik, um zuzuhören und für die offene Gesellschaft zu kämpfen. Unsere Redakteurin war dabei

Der Bus wird für unsere taz.meinland Redakteur*innen zum neuen Zuhause Foto: Tim Wagner

von Ann-Kathrin Liedtke

In den sieben Monaten, die ich im Projekt taz.meinland dabei bin, wurde mir schnell klar, wie wenig ich das Land, in dem ich lebe, kenne. Viel zu lange bin ich davon ausgegangen, dass die Mehrheit hier für Diversität und ein multikulturelles Zusammenleben einsteht, dass ihr Herkunft oder Geschlecht egal ist. Doch der Erfolg der AfD, die Aufmärsche von Pegida und der Satz „Ich bin ja nicht rechts, aber …“ zeigten mir ein anderes Bild. Ich fing an, genauer hinzuhören.

9 Monate, 34 Termine, 13 Bundesländer: Bisher waren wir mit dem Kleinbus etwa 17.227 Kilometer und 10.375 Minuten auf Tour – das sind etwa 172 Stunden und 55 Minuten oder anders gesagt: mehr als sieben Tage. Von den bisher 34 Terminen habe ich 23 mitgemacht. Die Reisetasche wird mittlerweile gar nicht mehr weggeräumt, sondern bleibt einfach mitten im Zimmer stehen. Das ständige, tagelange Unterwegssein, das Schlafen in fremden Betten in Hotels, bei Bekannten oder Eltern der RedakteurInnen ist spannend, kostet aber auch viel Energie.

Mittlerweile fühlt es sich so an, als sei der Bus, liebevoll „die Robbe“ genannt, zu unserem Zuhause geworden. Denn eigentlich muss, immer den nächsten Veranstaltungsbeginn im Nacken, während der Autofahrt alles erledigt werden, wofür sonst keine Zeit bleibt.

Wahlweise wird die Fahrt genutzt: für ganze Mahlzeiten (von während der Fahrt geschmierten Brötchen bis hin zum Döner), kleine Snacks (besonders gern konsumiert: von der Sonne geschmolzene Gummibärchen), Feierabendbiere (nur für die Rückbank), Nachberichte schreiben, Telefonate mit den nächsten Veranstaltungsorten führen, Zeitunglesen (nur die taz, selbstverständlich. Und einmal gab’s die InTouch – zu Recherchezwecken), schlafen und stundenlang zelebriertes Musikhören (mit den besten Hits aus den 90ern und 2000ern: „It’s Britney, bitch!“). Eine intensive Zeit, in der man eng zusammenwächst und auch an persönliche Grenzen stößt.

Vor Ort sehen das viele anders

In den Orten selbst ist es oft anders, als wir es uns an unseren Schreibtischen in Berlin ausgemalt haben. Zwei Stunden von Berlin entfernt fuhren wir, in der Lausitz angekommen, durch dichte, Ende November nicht mehr ganz so grüne Wälder. Unser Ziel und Diskussionsthema: der Tagebau „Nochten II“. Vermutlich hat die Lausitz kaum etwas so geprägt wie die Braunkohleförderung. Von den ehemals 17 Tagebauen sind heute noch vier aktiv – eine Entwicklung, die sich von Berlin aus betrachtet durchaus positiv liest.

Doch vor Ort sahen – und das hat mich wirklich überrascht – das viele ganz anders: Vattenfall, der größte Arbeitgeber der Lausitz, hat sich zurückgezogen. Die Folge: steigende Arbeits- und Perspektivlosigkeit. Obwohl noch heute ganze Dörfer der Planierraupe zum Opfer fallen, setzen sich viele LausitzerInnen für das Bleiben des Tagebaus ein. Denn: zu Spitzenpreisen kaufte Vattenfall ihre Häuser und Grundstücke, die auf dem Wohnungsmarkt unterirdische Preise erzielt hätten; sanierte Straßen und Bürgersteige, kurz: Vattenfall kümmerte sich – im Gegensatz zu „denen da oben“.

Egal, wie unterschiedlich die Regionen: Ich erlebe immer wieder Dinge, die ich auch aus meiner Heimat kenne

Im Tagebau angekommen, fühlt man sich wie auf einem anderen Planeten. Der dichte Wald bricht einfach ab: Es zeigt sich eine kilometerweite Mondlandschaft, die mir kurz den Atem nimmt. Teilweise bis zu 40 Meter tief wurde die Erde abgetragen. Egal, wo man hinblickt, nur Sand und Erde, manchmal sind auch Baugeräte oder meterdicke Metallrohre zu sehen.

Kaum vorstellbar, dass Menschen zulassen, dass ihre Heimat sich in eine solche karge Wüste verwandelt. Auch wenn ich nicht mehr in dem ostwestfälischen Dorf leben möchte, in dem ich aufgewachsen bin: alle Erinnerungen, alle Wege, die ich als Kind noch im Schlaf gefunden hätte, Namen, die heimlich in Bänke eingeritzt wurden, die alte gelbe Telefonzelle, der Kindergarten, der Tante-Emma-Laden, das Haus meiner Eltern; ausgelöscht für die Kohle. Heimatlosigkeit bekommt beim Blick auf den Tagebau eine ganz neue Bedeutung für mich.

Empfangen werden wir meist sehr freundlich. In Crottendorf im Erzgebirge gab’s vor der Veranstaltung Rouladen und Klöße – und Dankbarkeit darüber, dass „die Berliner“ nicht alle Vegetarier sind. Oder schlimmer: Veganer. Gerade wenn es nur wenige EinwohnerInnen gibt, scheint die Verbundenheit mit der Region besonders groß. Man ist stolz Erzgebirger, Monnemer, Bad Tölzer oder Burladinger zu sein und man identifiziert sich mit den dortigen Traditionen und der Sprache.

Aber egal, wie unterschiedlich die Regionen: Ich erlebe immer wieder Dinge, die ich selbst auch aus meiner Heimat kenne. In Rühn begegnete ich einem Busfahrer, der mir das Ticket erließ, weil ich ja nur bis ins nächste Dorf fahren wollte („Ach Quatsch, lass stecken!“) – ein Weiterer fuhr sogar einen komplett anderen Weg, einfach weil der nächste Bus in die Richtung erst wieder in zwei Stunden gefahren wäre („Wenn Frau Meier in der letzten Reihe nichts dagegen hat …“), und in Crottendorf ist das Grüßen auf der Straße – ob man jemanden kennt oder nicht („Das gehört sich so.“) – genauso selbstverständlich wie in dem 1.700-EinwohnerInnen-Ort, in dem ich aufgewachsen bin.

In einer Berufsschule in Hannover diskutierten wir mit Jugendlichen über ihr Bild einer offenen Gesellschaft. Sie antworteten auf unsere Fragen erstaunlich ehrlich und direkt. Wir hörten Sätze wie „Ich trage zur Gesellschaft schon viel bei, indem ich kein Intensivstraftäter mehr bin!“ oder Kommentare zu den neuen Nachbarn polnischer Herkunft: „Ich hab denen dann schon gesagt, dass ich erst mal alles ankette – wegen Klauen und so.“ Aber auch sehr reflektierte Aussagen zur eigenen Zukunft im Ausbildungsberuf oder dem manchmal fragwürdigen Umgang ihrer Vorgesetzten mit SchülerInnen, die einen Migrationshintergrund haben.

Wir hatten Veranstaltungen, in denen sich die BewohnerInnen wegen des Baus einer Brücke fast gegenseitig an die Gurgel gegangen wären und Knoblauchkröten schon mal mit Kindern gleichgesetzten; Ehrenamtliche, die sich gemeinschaftlich für die Rettung ihrer Region und gegen das Sterben ihres Dorfes einsetzen – bis zur Erschöpfung. Und Menschen, die um eine Familie trauern, die zurück in den Kosovo abgeschoben wurde und damit gleichzeitig mit dem Klischee aufräumen, dass im Osten alle rechts seien.

So unterschiedlich die Probleme jeweils sind, so viele Gemeinsamkeiten haben sie auch. Meistens ist es die Kraft, die fehlt, um sich dauerhaft neben einem Vollzeitjob politisch in der Gemeinde zu engagieren, um Initiativen zu gründen, Fahrgemeinschaften zu organisieren, um neue Deutsche zu integrieren. Und doch versuchen sie es.

Egal, welches Thema, in jeder Region wird angeklagt, dass die tatsächlichen Entscheidungen nicht vor Ort getroffen werden könnten. „Die in Brüssel“ oder „die in Berlin“, so der Vorwurf, würden letzten Endes doch anders und nach ihren Interessen entscheiden. Und noch eine Gemeinsamkeit kristallisiert sich heraus: Auch in größeren Städten fühlen sich die Menschen nicht gehört und nicht gesehen.

17 Veranstaltungen sind bis Ende September geplant. Rund 6.800 Kilometer und weitere 78 Stunden Autofahrt warten auf das Team. Genug Zeit, um die Probleme, die uns vor Ort begegnen, auch miteinander zu diskutieren. Bei Bockwurst und Brötchen an der Tankstelle um Mitternacht wird noch über die letzte Veranstaltung gesprochen oder morgens im Hotelzimmer Parallelen zu eigenen Erfahrungen gezogen. Doch vor allem: Wir nehmen das Erlebte mit zurück nach Berlin und versuchen, alle Meinungen sprechen zu lassen. Nach allem, was ich bisher auf der Tour erlebt habe, kann ich sagen: Deutschland ist kompliziert. Aber ist das nicht auch das Schöne daran?

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