Vergeblich Seit Jahrzehnten kämpft der einstige Schreinerlehrling Peter Röder um die Anerkennung seiner diversen Berufskrank-heiten. Ein Lehrstück: Im juristischen Nichts
von Reiner Metzger
Landessozialgericht Bayern, Schweinfurt. Ein moderner weißer Zweckbau, nichts vom Protz kaiserlicher und königlicher Gerichtsgebäude. Selten verirren sich Zuschauer hierher, obwohl es um Existenzielles geht: lebenslange Renten.
Am 23. November 2015 sitzt hier Peter Röder, 52 Jahre alt und früher Schreiner. Früher, das heißt in seinem Falle: Anfang der achtziger Jahre. Seitdem ist er krank, unter anderem leidet er an allergischen Schocks, seine Leber ist schwer geschädigt, manchmal muss er Blut spucken. Der Franke ist ein Riese, zwei Meter groß, einen Meter breit. Nach diversen Verfahren über die Jahrzehnte soll das Gericht an diesem Tag entscheiden, ob er eine Berufsunfähigkeitsrente bekommt oder nicht, genauer gesagt: eine gesetzliche Unfallrente. Entsprechend aufgeregt ist der Mann mit dem grauen Bürstenkopf. Es geht um den Unterschied zwischen lebenslang Sozialhilfeniveau oder deutlich mehr im Monat. Und um die Anerkennung der Krankheit, um die Haftung für seine Vergiftung. Ums Recht.
Die Geschichte des Peter Röder ist ein Beispiel dafür, wie schwierig es ist, mit im Beruf erworbenen Krankheiten als krank anerkannt zu werden. Und vielleicht hat er schon durchlitten, was einer Stewardess, die ein Fume Event, also die Kontamination der Atemluft in einem Flugzeug, erlebt hat, noch bevorsteht.
Röder kam als Schreinerlehrling mit vielen Chemikalien in Berührung: Holzschutzmittel mit giftigen Lösemitteln, Pentachlorphenol, kurz PCP, und Dioxin, außerdem mit dem Entfettungsmittel Trichlorethylen und mit Dämpfen aus Isolierschäumen.
Der Schutz vor den gefährlichen Stoffen spielte damals kaum eine Rolle. In seinem Blut wurde ein 19-fach erhöhter Wert des giftigen PCP gemessen. Der Betonboden einer Halle, in der er gearbeitet hat, wies bei einer Untersuchung im Jahr 2000 enorme 8,5 Gramm Pentachlorphenol pro Kilo Beton auf.
Der frühere Schreiner ist phänomenal hartnäckig, er gründet die Initiative kritischer Umweltgeschädigter, die IkU. Über die Jahrzehnte hat er nach eigener Aussage 40.000 wissenschaftliche Arbeiten zum Thema durchgearbeitet. Röder ist vielfach untersucht worden, von Arbeitsmedizinern, Nervenärzten, Psychologen, Internisten. Er ist ein wandelndes Sammelsurium an Berufskrankheitsbefunden. Trotzdem läuft das Verfahren seit 20 Jahren.
Und in jenem November 2015 kommt es noch schlimmer: Das Landessozialgericht lehnt seine Klage auf „Anerkennung von Gesundheitsstörungen“ ab. Es sieht den Fall sogar als so klar an, dass es eine Berufung zum Bundessozialgericht nicht zuließ (Aktenzeichen L17U 438/10).
In der Urteilsbegründung heißt es, es fehle zwar „nicht an einem Berufskrankheiten-typischen Erkrankungsbild“, aber „an einem erforderlichen hinreichend wahrscheinlichen Zusammenhang mit der Einwirkung durch organische Lösungsmittel“. Die Kausalität zwischen Beruf und Krankheit sei also nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit bewiesen, Entschädigung versagt.
Der Rechtsanwalt Wilhelm Krahn-Zembol, der auch an Röders Fall beteiligt war, nennt das heutige Berufskrankheitenrecht ideologisch geprägt. Es arbeite nach veralteten wissenschaftlichen Erkenntnissen – etwa der Vorstellung, ein bestimmter Stoff rufe eine definierte Wirkung hervor. Den wenigen gelisteten Berufskrankheiten stehen über 130.000 in der Industrie verarbeitete Stoffe gegenüber. Der neueste Stand der Medizin fließe nur mit großer Verzögerung in Verfahren ein.
Die Prozesse um Berufsunfähigkeit haben außerdem ein grundlegendes Problem: Welche Beschwerden und welche Gifte im Verzeichnis der Berufskrankheiten gelistet werden, legt ein Gremium fest, in dem auch die Berufsgenossenschaften sitzen. Sie, als Träger der Unfallversicherung, stellen die Schäden fest und ermitteln die Belastung mit Schadstoffen an den Arbeitsorten, sind aber auch die Beklagten. Gutachter bilden sie ebenfalls weiter. Für einen Rechtsstaat eine seltene Konzentration an Zuständigkeiten.
Die Richter arbeiten das vom Gesetzgeber vorgegebene Listensystem der Berufskrankheiten ab und berufen sich dabei letztlich auf den von ihnen berufenen Gutachter. Er gibt den Ausschlag, auch wenn es wie im Fall Röder andere Gutachter mit anderen Ergebnissen gibt.
Peter Röder findet in seinem konkreten Fall das Gutachten ebenso wie das richterliche Vorgehen immer noch skandalös. „Ich kann nachweisen, dass ich mit Dioxinen und einschlägigen Lösungsmitteln belastet wurde, dass meine Leber geschädigt ist“, sagt er. Doch all das sei vom Gutachter weggewischt worden. „Den Richter haben meine Beweisanträge gar nicht interessiert.“
Damit endet dieses Verfahren wie so viele in dem Bereich: im juristischen Nichts. Die Kosten für Röders Berufsunfähigkeit tragen weiterhin er und die Allgemeinheit, nicht der mögliche Verursacher, also der Arbeitgeber und seine Versicherung.
Das ist nicht nur eine Zone der Ungerechtigkeit im Rechtsstaat, mit zermürbten Kranken und verbitterten Angehörigen. Es ist ein sich selbst erhaltendes System: Wenn die Verursacher nicht zahlen müssen, dann brauchen sie auch weit weniger Vorsorge zu treiben; giftige Stoffe und krank machende Produktionsverfahren müssen sie nicht durch kostspieligere, aber gesündere ersetzen. Ohne finanziellen Schaden ist in der Wirtschaft noch selten jemand klug geworden.
Was über die rechtlichen Auseinandersetzungen oft aus dem Blick gerät: Es gibt inzwischen recht genaue Erkenntnisse, wie die hier verhandelten Giftstoffe den Menschen angreifen. Und wie sich damit belegen lässt, ob eine Vergiftung vorliegt oder nicht. So ein Beleg wäre hilfreich in Fällen wie dem von Röder – zöge man ihn denn heran.
Gifte wie Dioxine, Lösungsmittel oder auch Feinstaub docken nämlich an einer bestimmten Stelle in den Körperzellen an, dem sogenannten Arylhydrocarbon-Rezeptor, kurz AhR. Je giftiger ein Stoff, desto lieber koppelt dieser AhR-Empfänger mit ihm. Der Rezeptor wird durch die Kopplung aktiv, er macht sich auf den Weg in den Zellkern und lagert sich dort an ganz bestimmte Gene an. Diese Gene arbeiten dann anders, als sie sollten. Krebs, Autoimmunerkrankungen oder Hyperallergien gegen die verschiedensten Stoffe sind die Folgen.
Einen Effekt kann sich die Diagnose dabei zunutze machen: Unter anderem produzieren die Zellen dann klar definierte Eiweiße, die als Nachweis und Marker für die Vergiftung und ihre Stärke dienen. Für Dioxin heißt der weltweit anerkannte Marker Cytochrom CYP 450 1A1 – klingt kompliziert, ist aber heutzutage einfach zu messen. Dieser Wert ist bei Peter Röder um das 7,2-Fache erhöht.
Hier kommt nun ein wenig Hoffnung ins Spiel: Gelingt es, den Ah-Rezeptor zu blockieren, dann würden quasi auch die Krankheiten blockiert oder zumindest gelindert. Ein Mittel namens Resveratrol stoppt die Aktivierung des Rezeptors im Reagenzglas. Der Organismus des Menschen wandelt das Mittel jedoch schnell in ähnliche Stoffe um, es gelangt nur in geringen Konzentrationen in Reinform ins Blut. Mediziner streiten derzeit, wie stark die Effekte von Resveratrol im Körper trotzdem sein können.
Peter Röder testet die Praxis, schluckt täglich eine dicke Pille Resveratrol in Reinform. Er hat die Dosis so lange gesteigert, bis bei seinen Krankheitssymptomen Besserung eintrat, auf 200 Milligramm am Tag. Nach seinen Schätzungen könnte Resveratrol zehntausenden Kranken helfen, in Deutschland allein. Bei chemischen Vergiftungen. Aber auch bei der verbreiteten Chemotherapie von Krebs; dort werden auch Stoffe eingesetzt, die den Ah-Rezeptor aktivieren.
Dass so vielen Betroffenen nicht geholfen wird, regt Peter Röder fast noch mehr auf als die Ungerechtigkeiten seines Gerichtsverfahrens: „Das Wissen ist doch da. Es muss endlich genutzt und ausprobiert werden.“
Mitarbeit: Benedict Wermter, Correctiv.org
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