Sie trafen sich im Tiergarten

NATIONALSOZIALISMUS Die Gedenkstätte Deutscher Widerstand hat einen Audiovideoguide entwickelt, mit dem man auf den Spuren der Widerstandsgruppe Rote Kapelle wandeln kann. Unsere Autorin hat ihn ausprobiert

Libertas und Harro Schulze-Boysen in Mülheim, um 1935 Foto: Gedenkstätte Deutscher Widerstand

von Annika Glunz

Die Sonne strahlt vom Himmel und es duftet aus allen Richtungen nach Frühling, als ich durch den Tiergarten schlendere. Links und rechts von mir Menschen, die auf den Wiesen liegen und die Sonne genießen. Auf dem Bildschirm des Tablets sehe ich Felix von Harnack und Kolja Unger, die beide exakt den gleichen Weg gehen wie ich. Über Kopfhörer lausche ich den Geschichten, die sie erzählen – Geschichten, die sich hier im Tiergarten vor rund 75 Jahren ereigneten.

Dieser Ort fungierte während des Nationalsozialismus über einen langen Zeitraum als ein Haupttreffpunkt der Roten Kapelle – eines Widerstandsnetzwerks, dem über 150 Re­gime­gegnerinnen und -gegner unterschiedlicher sozialer Herkunft und weltanschaulicher Auffassung angehörten. Federführend waren damals Harro Schulze-Boysen, Angestellter des Reichsluftfahrtministeriums, und seine Frau Libertas sowie Arvid Harnack, Oberregierungsrat im Reichswirtschaftsministerium, und seine Frau Mildred. Felix von Harnack und Kolja Unger sind Nachfahren der Rote-Kapelle-AktivistInnen.

„Nur für Arier“

Während Segways und Longboards an mir vorbeifliegen und Kinder durch die Gegend toben, erfahre ich, wie Hitler nach seiner Machtergreifung zunächst belächelt und auch verharmlost wurde, wie viele Menschen eine Diktatur für absolut undenkbar hielten. Ich höre, wie sich nur wenige Monate später die Si­tua­tion bereits dramatisch veränderte: Hitler hatte im Eiltempo systematisch Grundrechte und Verfassung außer Kraft gesetzt. Dies war die Zeit, in der die Widerstandsgruppe begann, sich regelmäßig zu treffen.

Weiter geht es durch den Tiergarten, immer geradeaus den Weg entlang, bis mir die Guides in meinem Ohr sagen: „Bitte bleiben Sie vor dieser Bank stehen.“ Ich bleibe stehen und verfolge eine Szene, die sich auf dem Display ereignet. Auf der Bank vor mir sitzen Libertas und Harro Schulze-Boysen. Sie erheben sich – und hinter ihnen kommt langsam ein Schild zum Vorschein, das an der Rückenlehne der Bank befestigt ist: „Nur für Arier“. Die Aufschrift springt einem ins Auge, wie gebannt starre ich auf die Bank vor mir, Gegenwart und Vergangenheit beginnen vor meinen Augen zu verschwimmen.

Der Audiovideoguide, den der Künstler und Filmemacher Stefan Roloff in Zusammenarbeit mit der Gedenkstätte Deutscher Widerstand entworfen hat, beschert seinen BenutzerInnen Erlebnisse, die wohl kein Ausstellungsbesuch vermitteln kann: Sich permanent zwischen den Zeiten bewegend, nehmen sie die Informationen über die WiderstandskämpferInnen der Roten Kapelle nicht bloß auf, sondern können sie hautnah erfahren.

Der insgesamt etwa 80-minütige Spaziergang führt die BenutzerInnen des ­Guides vom Tiergarten über die Wilhelmstraße, das frühere Machtzentrum der Nationalsozialisten, bis zu den früheren Folterkellern an der „Topographie des Terrors“, in denen auch zahlreiche Mitglieder der Roten Kapelle hingerichtet wurden.

Während auf den Screens Szenen nachgespielt werden, die sich vor rund 75 Jahren ereignet haben, werden Berichte ausschließlich von Nachkommen Angehöriger der Roten Kapelle verlesen. „Menschen, die ein ­inneres Gefühl dafür haben“, so begründet Roloff, dessen Vater ­Helmut ebenfalls Mitglied der Roten Kapelle war, diese Wahl.

„Die Rote Kapelle ist für mich eine Büchse der Pandora. Ich habe sie als Zwölfjähriger von meinem Vater erhalten, seither beschäftigt sie mich“

Stefan Roloff, Autor des AudioVideoGuides

Nach seiner Motivation für den Entwurf des Audiovideoguides befragt, lacht er: „Die Rote Kapelle ist für mich eine Büchse der Pandora. Ich habe sie als Zwölfjähriger von meinem Vater erhalten, seither beschäftigt sie mich.“

Die Rote Kapelle bestand seit der Gründung Mitte der 1930er Jahre zunächst aus Diskus­sions- und Schulungskreisen. Ab 1940/41 entwickelte sich ein loses Netzwerk aus sieben Berliner Widerstandskreisen, die auf sehr vielfältige Art und Weise den Nationalsozialismus zu bekämpfen suchten: Neben Diskussionen über politische und künstlerische Fragen half die Gruppe Verfolgten, man dokumentierte nationalsozialistische Gewaltverbrechen und leistete durch das Verbreiten von Flugschriften und das Anbringen von Klebezetteln an öffentlichen Orten politische Aufklärungsarbeit. Außerdem gaben Harnack und Schulze-Boysen militärisch wichtige Nachrichten an die Sowjetunion weiter. Die Gruppe wurde 1942 von der Gestapo enttarnt, die unter dem Sammelbegriff „Rote Kapelle“ gegen sie ermittelte.

Zentral ist für Roloff die Einsicht, dass die Geschichte der Roten Kapelle zeitlos ist und un­abhängig von Ideologie: „Die Frage, wie man sich verhält, wenn das eigene Land einen unrechtmäßigen Krieg beginnt, taucht zu allen Zeiten und an allen Orten immer wieder auf.“

Johannes Tuchel, Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand, fügt mit aufgebrachter Stimme hinzu: „Das Urteil, das 1943 gegen Harro Schulze-Boysen unter anderem wegen ‚Kriegsverrats‘ gefällt wurde, wurde erst 2006, also sage und schreibe 63 Jahre später, wieder aufgehoben.“ Zu einer generellen Aufhebung aller Urteile wegen „Kriegsverrats“ hat sich der Deutsche Bundestag erst 2009, nach jahrelangem Streit, entschließen können.

Der Audiovideoguide kann kostenfrei in der Gedenkstätte Deutscher Widerstand (Stauffenbergstraße 13) geliehen oder auch als QR-Code heruntergeladen werden. www.gdw-berlin.de