heute in hamburg
: „Starker Trend zum Erinnern“

Tod Trauerforscher spricht über Gedächtniskultur im Hafen, angeschwemmte Seeleute und Identität

Norbert Fischer

Foto: Patrick Ohligschläger

59, Kulturwissenschafts-Professor an der Uni Hamburg, ist Experte für Bestattungs- und Erinnerungskultur.

taz: Herr Fischer, was macht Hamburgs Hafen zur Gedächtnislandschaft?

Norbert Fischer: Eine Gedächtnislandschaft ist ein Ort, an dem sich vergangene Erfahrungen materialisieren. Zum Beispiel in der Madonna der Seefahrt am Fischmarkt für die auf See Gebliebenen. Oder im Mahnmal für die Opfer der Sturmflutkatastrophe von 1962 in Wilhelmsburg.

Sie nehmen nur Katastrophen- Erinnerungsmale in den Blick, richtig?

Ja, mein Vortrag bezieht sich auf Verluste, Tod und Trauer.

Von wann stammen die ältesten Memorials in Hamburgs Hafen?

Das früheste entstand wohl 1960, nach dem Untergang des Frachters „Lühesand“, und steht an der Christianskirche. Es folgen Memorials für die Flutkatastrophe von 1962. Viele Memorials – etwa das für den Untergang des Raddampfers „Primus“ 1902 vor Nienstedten – wurden aber erst vor 20 Jahren aufgestellt.

Warum so spät?

Weil Gedächtniskultur immer dann eine Blütezeit erlebt, wenn sich die Gesellschaft rasant wandelt. Das war um 1900 so, aber auch in der heutigen digitalen Welt. Seit 20, 30 Jahren gibt es einen starken Trend zur Erinnerungskultur.

Stiftet sie auch Identität?

Ja. Die Memorialkultur an der Nordseeküste – sowie an der Niederelbe und in Hamburg – hat hierfür die maritime Vergangenheit auserkoren, weil das Wasser hier als Naturgewalt eine besondere Rolle spielt. Dabei wird ausblendet, dass etwa Wilhelmsburg auch eine starke bäuerliche Vergangenheit hat; es war früher eine Art Kornkammer. In der Erinnerungskultur der Region spielt das keine Rolle.

Warum nicht?

Einmal, weil das Maritime in den Touristenorten besser vermarktbar ist. Zum anderen, weil es für die Bedrohung der Region, den gemeinsamen Kampf gegen Naturgewalten und gemeinsame Verluste steht und damit Identität stiftet.

Und die Memorials blenden keine Opfergruppe aus?

Zentral sind immer die heimischen Opfer, auch im Hamburger Hafen. Aber auf der Insel Neuwerk etwa liegt ein Friedhof der Namenlosen für angeschwemmte Seeleute, wie es sie an der Nordseeküste zuhauf gibt. Und an den Landungsbrücken steht ein Denkmal für vietnamesische Boat People, die in den 1970er-Jahren auf der Flucht ertranken. InterviewPS

Norbert Fischer spricht während des Hafenkongresses über „Maritime Gedächtnislandschaft Hamburger Hafen“: 18.30 Uhr, Kampnagel, K1