Stefan Alberti wundert sich über einen ganz besonderen Bären im Parlament: Nicht züngelnd, aber geschichtsträchtig
Drei Flaggen beherrschen den Plenarsaal, den größten Saal des Abgeordnetenhauses, in dem, wenn nicht gerade Urlaub ist, alle zwei Wochen die 160 Landesparlamentarier im Halbkreis zusammensitzen. Links schwarz-rot-gold die Deutschlandfahne, rechts das Blau der Europäischen Union mit den zwölf goldenen Sternen. Beide Fahnen ein bisschen kruselig gespannt, aber in leuchtenden Farben. Welch in Kontrast zur dritten Flagge, der des Landes Berlin. Ausgeblichen und fadenscheinig hängt sie da.
„Arm, aber sexy“ sei Berlin, hat Ex-Regierungschef Wowereit mal gesagt – aber jetzt sprudeln die Millionen ja schon seit einigen Jahren wieder, und so teuer kann eine neue Flagge doch nicht sein. Bei Ebay gibt es sie im etwas kleineren Format von 1,50 auf 2,50 Metern für knapp 14 Euro.
Also mal schnell den Hausherrn gefragt, Parlamentspräsident Ralf Wieland von der SPD. Der mag von Ersatz nichts wissen – diese Flagge stamme noch aus der ersten Nachkriegs-Stadtverordnetenversammlung, die im Neuen Stadthaus in der Parochialstraße tagte. Von dort wanderte sie ins Rathaus Schöneberg, wo über Jahrzehnte das neu gebildete Abgeordnetenhaus zu Hause war, und zog 1993 ins heutige Parlamentsgebäude gegenüber vom Martin-Gropius-Bau.
Wenn man dann ein bisschen genauer hinschaut, dann fällt einem auf, dass der Bär auf dem weißen Hintergrund zwischen den beiden roten Streifen irgendwie anders aussieht. Hat der sonst nicht rote Krallen und eine rote Zunge? Wieland nickt: „Der ist entmilitarisiert.“ Die Alliierten hätten nach 1945 darauf gedrängt, auf die Krallen zu verzichten und eben auch auf die Zunge. Weil die zum Sinnbild verheerender Propaganda geworden sei mit Goebbels in den Nazi-Jahren.
Der zungenlose Bär im Plenarsaal also als Mahnung an die Abgeordneten, ihre via Zuschauer, Pressetribüne und Livefernsehen weithin wirkenden Worte gut abzuwägen. Eines haben die, die sich das überlegten, allerdings nicht bedacht: Die Redner, die sich doch an dieser besonderen Flagge orientieren sollen, sie stehen am Mikrofon mit dem Rücken zu ihr.
Könnte sein, dass das der Grund dafür ist, warum der eine oder andere Redebeitrag schon mal suboptimal daherkommt.
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