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Lückenfüller Lange schon gab es Ideen für ein undogmatisches linkes Blatt. Der „Deutsche Herbst“ 1977 wirkte wie ein Katalysator für diese „Utopie“. Motto: Keine Chance, aber wir nutzen sieVom Prospekt zur tageszeitung

von Wolfgang Gast

Die Laudatio auf die taz hielt der Schriftsteller Peter Schneider: „Streunende Kinder drückt man nicht ungebissen an die Brust“, schrieb er, „und ein frühreifes kratzbürstiges Mädchen war die taz bereits im Wickelalter. Ein Waisenkind, ein garstig Kind, gepäppelt und herumgestoßen von tausend selbsternannten Eltern, die bis heute um Alleinerziehungsrechte streiten. Im Schutz dieses Gerangels um das Sorgerecht hat sich das Kind prächtig entwickelt und seine Erziehung in die eigene Hand genommen.“

Schneider, einer der führenden Köpfe der Berliner Studentenbewegung Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre, war damals im Berliner Wedding auf Hausbesuch, dort, wo damals die taz noch ansässig war. Anlass war der zehnte Geburtstag dieser Zeitung. Und der, so Schneider, habe es in sich. Zum Schrecken vieler seiner Eltern habe das Kind geradezu eine Brillanz entwickelt, bei der es sich vermutlich aber um eine Trotzbegabung handeln muss. „Denn das Geburtstagskind hat, obwohl noch nicht in der Pubertät, bereits eine stattliche Zahl von Vater- und Muttermorden hinter sich und erkennt nur noch Wahleltern an. Elternbesuch, von wem auch immer, ist grundsätzlich nicht erwünscht, weswegen vermeintliche Sorgeberechtigte sich immer wieder mit dem Mittel der Hausdurchsuchung oder auch -besetzung Zutritt zu dem undankbaren Wechselbalg verschaffen.“

Das „Projekt tageszeitung“ füllte eine mediale Lücke

Wolfgang Gast

Jahrgang 1958, Pädagoge, arbeitete in den Achtzigerjahren im Jugendzentrum KOMM in Nürnberg. Seit 1989 arbeitet er in der taz, aktuell in der Meinungsredaktion.

Das war 1989, und die taz verwaltete das chaotische Erbe jener Leute, die in der grauen Achtundsechziger-Vorzeit „Spontis“ hießen. Obwohl den Spontis erst vom Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) und später von allen K-Gruppen ein historisch unausweichliches Ende mit Schrecken prophezeit worden war, erweist sich diese Spezies unter den linken Arten als die lebensfähigste.

In den Nachbarländern Italien und Frankreich hatten linke Gruppen lange vor der taz auflagenstarke, wenn auch kurzlebige Zeitungen hervorgebracht: In Italien Lotta Continua, in Frankreich Libération. Dass das Spontiwesen im Gegensatz zu den mediterranen Nachbarn ausgerechnet in Deutschland eine jahrzehntelange Tradition entwickeln konnte, ist für Schneider „wahrscheinlich auf die Unfähigkeit zu einem kohärenten Weltbild dieser Gruppe zurückzuführen; anders und positiv gesagt auf ihr Misstrauen gegen ‚ewige Wahrheiten‘ “.

Schöner als Peter Schneider konnte man dem „Projekt tageszeitung“ gar nicht gratulieren – und der Literat wusste dies auch: „Wer einem solchen Kind gratuliert, muss sich vorsehen. Geburtstagstorten wirft es zurück, und duldet Zärtlichkeiten nur, wenn sie schmerzen.“

Die taz entstand in der Folge des Tunix-Kongresses, Geburtsort der Alternativ­bewegung im Januar 1978 in Berlin

Die taz entstand in der Folge des Tunix-Kongresses im Januar 1978 in Berlin, der Geburtsstunde der Alternativbewegung. Sie war eine Reaktion auf den „Deutschen Herbst“ 1977, der Kriegserklärung der Roten Armee Fraktion an die Bundesrepublik, die mit der Entführung und Ermordung des Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer, der Befreiung des entführten Lufthansa-Jets „Landshut“ in Mogadischu und dem anschließenden Suizid der RAF-Gründer Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe Ende Oktober jenes Jahres ihren Höhepunkt fand. „Dann kam der Herbst“, schrieben nach einen Treffen die „Initiativgruppen“, die den Aufbau einer landesweiten, dezentralen linken Zeitung mit einer „Prospekt Tageszeitung“ betitelten Broschüre vorantrieben: „Während wir uns die Augen rieben, verwirrt und betroffen die staatliche Inszenierung Stammheim/Mogadischu mit Schmidt als Regisseur, den Medien als Choreografie und uns als Statisten erlebten, unter Zwang. Doch Herbst ist auch die Zeit der Reife. Zwar existierte das Projekt einer linken Tageszeitung schon in den Köpfen von Ostermarschierern, auf den Barrikaden gegen Springer oder in den Stuben der Wissenschaft. Aber noch nie fielen Notwendigkeit und Bedürfnis so offen zusammen wie seit den Tagen der Großen und Kleinen Krisenstäbe, die sich den Punkt Medienlage jeweils auf Platz eins ihrer Tagesordnung zu setzen gewohnt waren.“

Der Rechtsanwalt Hans-Christian Ströbele, Jean-Marcel Bouguereau von der französischen Libération und Achim Meyer vom Münchner Blatt verkündeten dem Publikum des Tunix-Kongresses in Berlin die Pläne der Gründung eines linken Tagesblattes. Bis Ende des Jahres bilden sich Initiativgruppen in 30 Städten.

Tatsächlich war eine Zeitung wie die taz nötig – kulturelle und politischen Diskurse jener Szenen, die später als alternative Bewegung verstanden wurden, fanden in den klassisch-bürgerlichen Medien kaum Resonanz. Die taz füllte die publizistische Lücke für ein Milieu, das mit den Grünen in bundesdeutschen Parlamenten präsent sein und nicht wieder verschwinden sollte.

Bis Ende des Jahres sind Bestellungen für 1534 Voraus-Abos eingegangen. In 25 Städten bereiten „taz-Inis“ die Zeitungsgründung vor. Aus einigen von ihnen entstehen später Regionalredaktionen: Hannover, Freiburg, Frankfurt oder München, vor allem aber die taz-Regionalausgaben Hamburg und Bremen.

Das „Nationale Plenum“, basisdemokratisches Gremium aller Gruppen, beschließt nach intensiver Diskussion im Dezember in Frankfurt am Main, dass der Sitz der künftigen Zentralredaktion in Berlin sein wird. Berlin-Förderung und günstige steuerliche Abschreibungsmöglichkeiten geben den Ausschlag für die Mauerstadt. Für den Beginn der täglichen Produktion wird der 2. April 1979 avisiert. In weiteren Nullnummern erarbeitet die entstehende Redaktion eine neue Tageszeitung.

Vom Wedding in die Mitte der Hauptstadt

Seit dem 17. April 1979 erscheint die taz – der Name lautet so lapidar wie anspruchsvoll: „Die Tageszeitung“, als seien alle anderen irgendwie nachrangig – täglich. Die Startauflage liegt bei 63.000 Exemplaren, verkauft werden von der ersten Ausgabe rund 20.000. Zentralredaktion und Verlag sitzen in der Weddinger Wattstraße. Das Einheitsgehalt der MitarbeiterInnen beträgt 800 DM. Die erste Vorausgabe erschien am 27. September 1978. Allerdings trug sie das Datum 22. September – fünf Tage hatte die Bearbeitung der „Nullnummer Nr. 1“ mit 16 Seiten gedauert. Sie enthielt einen doppelseitigen Bericht des Schriftstellers und Journalisten Gabriel García Márquez über den Sieg der Sandinistas in Nicaragua. Weitere Schwerpunkte waren die geplante Wiederaufbereitungsanlage für Atommüll in Gorleben, die Verhaftung von Astrid Proll, einst Mitbegründerin der RAF, ein Interview mit einer Animierdame einer Peepshow, der Widerstand gegen Uranbergbau im Schwarzwald sowie das Nato-Groß­manöver „Autumn Force“.

Die Pubertät der „tageszeitung“ ist längst vorbei. Ein Zeichen ihres Erwachsenseins ist, dass es sie noch gibt. Und dass sie im kommenden Jahr in ihr neues Haus ziehen wird.

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