Moderne Gegenöffentlichkeit: Auf die Nerven gehen
Gegenöffentlichkeit ist heute was anderes als früher. Grund dafür sind neue Mittel der Artikulation und rechtspopulistisches Aufbegehren.
Das Konzept „Gegenöffentlichkeit“ gab es schon lange vor dem 2. Juni 1967.
Vor 50 Jahren, nachdem der keineswegs durchpolitisierte Student Benno Ohnesorg von einem Beamten einer allenfalls vierteldemokratisch gesinnten Polizei West-Berlins erschossen worden war, wurde lediglich aus der Not die Idee von Untersuchungsausschüssen, Gegenermittlungen und Recherchen gegen die Behauptungen der Staatsapparate geboren.
Ein junger Mann, Teil des gesellschaftlichen Aufbruchs in der Bundesrepublik gegen den Muff der christlich auf Untertänigkeit getrimmten Adenauerrepublik, war das Opfer, mit dem sich schließlich die halbe Republik identifizieren wollte.
Aber Öffentlichkeit der Opposition, selbst unter totalitären Bedingungen, gab es immer schon – auch wenn ihre Ausübung mit dem Tode bestraft wurde, wie bei den Geschwistern Sophie und Hans Scholl unter den Nationalsozialisten, denen Flugblätter zum Verhängnis wurden.
Jahrgang 1957, hat Soziologie studiert und ist seit 1996 Redakteur bei der taz. Aktuell betreut er taz.meinland, das taz.lab und diese Sonderausgabe. Spezialgebiete: Diskriminierung
Papierne Formen des Einspruchs
Flugschriften, Mitteilungen, ohne durch die Filter der etablierten Zeitungen zu müssen, gab es seit Jahrzehnten: Sie waren zugleich mobilisierende Papiere, die Missstände anprangerten und Protest einforderten.
Diese papiernen Formen des Einspruchs, der schriftlich verfassten Mühen um eine andere Sicht auf die Wirklichkeit, sterben aus oder sind es schon: Läuft doch alles digital. Die heutigen Empörungen und Einsprüche werden am häufigsten über Facebook, aber auch über Foren wie Open Petition und Campact verbreitet.
So weit, so modern. „Gegenöffentlichkeit“ ist jedoch keine linke Domäne mehr. Rechtspopulistische und offen rechte Erregungen, wie sie zur Pegida-Bewegung und zur AfD wurden, beanspruchen, die wahre Wahrheit zu formulieren – und sie taten dies vor den ersten Dresdner Pegida-Manifestationen über das Internet.
Dass diese rechte Bewegung im medialen „Tal der Ahnungslosen“ Erfolg bis heute hat, mag darauf geschoben werden, dass in Dresden bis zur Wende kaum Westfernsehen zu sehen war und deshalb Mediennutzung nicht gelernt wurde – die Realsozialisten publizierten und niemand glaubte ihnen, selbst wenn dass Neue Deutschland zutreffend behauptet hätte, jeden Tag ginge die Sonne auf.
AfD und Pegida sind nicht die Gefahr
Dass heute in den rechtspopulistischen Szenen ein fundamentales Misstrauen gegen die Medien existiere, ist allerdings falsch: Das Misstrauen gilt der Bundesrepublik als solcher, nur vordergründig den Zeitungen und Radiostationen und TV-Sendern, mit denen eine völkisch gesinnte Neujustierung der Bundesrepublik nicht zu haben ist.
Pegida – und die AfD als solche – ließe sich auch anders denn als Gefahr formulieren: Die verlaufen sich; diese Bewegung ist nicht sexy, nicht seriös mehrheitsfähig; sie repräsentiert eine Gegenöffentlichkeit und -praxis, die buchstäblich fast allen auf die Nerven geht. Wer will sich schon ernsthaft mit Figuren wie Lutz Bachmann identifizieren oder, nun ja, Alexander Gauland? Freaks und Nervensägen.
Riskant ist das Konzept „Gegenöffentlichkeit“ freilich für die Linke, für Alternative, für jene, denen die Bundesrepublik noch vor gar nicht langer Zeit auch als „System“ abzuschaffen war. Die Bereitschaft, unentwegt enthüllen und entlarven zu wollen, ist wie eh und je immens. Und sie ist berechtigt, wo es, wie in Berlin vor einigen Jahren, um die geheim gehaltenen Wasserverträge ging: Wo es um kommunale Güter geht, muss es Transparenz geben.
Aber schon am Beispiel „Wikileaks“ lässt sich heute plausibel machen, dass ein Mann wie Julian Assange und seine Freund*innen kaum mehr als politische Hasardeure sind – und zwar im Gewand der Aufklärer. Wie sich mehr und mehr herausstellt, ist die Enthüllungsplattform kaum mehr als ein Instrument nützlicher Idioten im Sinne der antidemokratischen Politiken Putins: Donald Trump und die Seinen freuten sich im Kampf gegen die demokratischen Bewegungen in den USA tüchtig.
Was haben die Panama-Papers gebracht?
Denn: Wo haben denn die Wikileaks etwas zu oligarchischen Systemen in Russland oder im arabischen Kontext blamiert? Sind denn Dateien des wahhabitischen Königshaus in Riad zur Kenntnis gebracht worden? Oder solche mit näheren Hintergründen – Geldflüsse etwa – zur Okkupation der Krim durch russische Militärs?
Weiter: Was hat die Publikation der Panama-Papiere gebracht? Geldwäsche, Diebstähle an Volksvermögen durch Steuerhinterziehung – das sind Fragen, die nur politisch gelöst werden können und müssten: Empörung über die Gier der Wohlhabenden reicht nicht.
Der Coup, Panama als Hehlerstaat dem globalen Pulikum zur Kenntnis gebracht zu haben, lohnte sich für die dies veröffentlichenden Medien, auch die Süddeutsche Zeitung, führte aber gesetzlich zu fast nichts: Politik gegen solche Panama-Praxen wird in Parlamenten entschieden, nicht in den Sozialen Medien oder Zeitungen.
Dass die Schweiz faktisch kein Bankgeheimnis mehr hat und es für Steuerflüchtige dort keine Heimat mehr gibt, lag an US-amerikanischen Drohungen, nicht an wortreichen Petitionsaufständen im Internet.
Coolness gegen Empörung
Eine andere Tradition steckt auch noch im Konzept „Gegenöffentlichkeit“, und sie dreht sich um die linke Annahme der späten sechziger Jahre, das Private sei politisch. Das ist erstens öfters wahr als gelogen: Alle Fragen, die die Frauenbewegung seit der Achtundsechzigerzeit stellte, waren und sind politisch: Abtreibungsrecht, gleiche Rechte in Partnerschaften und Ehen, Kinder und Nichtkinder etwa.
Auch in den Bewegungen sexueller Minderheiten – etwa der Schwulen – musste das scheinbar Private politisiert werden: Die heteronormative Machtkultur musste einfach unterlaufen werden, und sei es, wie durch Rosa von Praunheim, durchs Outen von Männern wie Alfred Biolek und Hape Kerkeling. Anders kann das, was Normalisierung nicht heterosexueller Lebenschancen angeht, nicht errungen werden.
„Gegenöffentlichkeit“ – die braucht es nicht mehr nicht mehr in dem klassisch verstandenen Sinne wie vor 50 Jahren. Empörung als Reaktionsmodus auf alles, was einem in der Welt nicht passt, ist zur Disziplin der Rechten geworden, und sie wird es bleiben: Das können die echt gut. Leider. Linken stünde ein anderer Modus gut an: Coolness. Nicht Chemtrails trauen, keiner Hassbotschaft, keiner aufgeschäumten Erregung, keiner Verschwörungstheorie und auch keinen Botschaften, die die Welt als Verhängnis schildern.
Politisch ist eine bessere Welt nur durch stete, auch nervenaufreibende Arbeit zu haben – in den demokratischen Institutionen. Die Straße als Gegenöffentlichkeit ist weiterhin notwendig: Auch, um rechten Demonstrationen zu signalisieren, dass sie als Antidemokraten jederzeit mit Gegenwehr einer bunten oder konservativ gesinnten oder linken Gesellschaft zu rechnen haben.
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