Hort der Bürgerbewegung: die Umweltbibliothek, die in Räumen der Zionskirche in Ostberlin untergebracht war Foto: Andreas Schoelzel

Spielraum für den Glauben

Kirche und Staat Von Christenverfolgung ist bisweilen die Rede, wenn es um die Religionspolitik in der DDR geht. Dabei hat die Kirche großen gesellschaftlichen Einfluss im SED-Staat gehabt

von Karsten Krampitz

Der unvergessene Peter Ensikat fragte einst: „Hat es die DDR überhaupt gegeben?“ – Gegenfrage: Ja, welche denn? Für die einen war die SED-Diktatur der Unrechtsstaat schlechthin; ein Homunculus sovieticus oder wenigstens ein autoritärer Fürsorgestaat. Andere meinen sich an die „größte Errungenschaft der deutschen Arbeiterbewegung“ zu erinnern, die für den Frieden stand und Arbeiterkindern soziale Aufstiegschancen bot. Hinter vorgehaltener Hand meinen aber selbst solche: „Gewiss, es war nicht alles gut.“

Die Deutungshoheit zur DDR-Geschichte verspricht einen Stellungsvorteil im Ringen um die kulturelle Hegemonie. Von daher geht es in der Debatte nie nur um die Vergangenheit. So auch in der seit einiger Zeit aufgeworfenen Frage nach der „Christenverfolgung in der DDR“. Von einer solchen spricht der Landesbeauftragte zur Aufarbeitung der SED-Diktatur im Freistaat Thüringen. Christian Dietrich, den der Landtag auf Vorschlag der CDU ins Amt gewählt hat, beklagte unlängst die zu geringe Beachtung des Themas durch die rot-rot-grüne Landesregierung. Der frühere evangelische Pfarrer wird nicht müde, im Lutherjahr diesen Begriff in den politischen Diskurs einzuführen.

Auf seiner Internetseite schreibt Dietrich, dass die „Gottlosigkeit“ der kommunistischen Herrschaft bis heute kein Thema für die Nachfolgepartei der SED wäre. „Eine Partei, die Religionsverfolgung zum Kern ihrer Identität gemacht hatte (Christen konnten nicht Mitglied der Partei sein) und mit dieser Tradition nicht offensiv bricht, ist eine Gefährdung für unsere Demokratie.“ Offenbar sind dem Beauftragten ein wenig die Nuancen abhandengekommen.

Ausgerechnet die Thüringer Kirche hatte immer ein gutes Verhältnis zur SED. Als die Arbeiter am 17. Juni 1953 gegen die SED protestierten, war es der evangelische Landesbischof von Thüringen, Moritz Mitzenheim, der von einer „faschistischen Provokation“ sprach. Die Formel von der „Kirche im Sozialismus“ stammt von hier; Moritz Mitzenheim hatte 1968 erstmals davon geredet, als in der DDR eine neue Verfassung in Kraft trat, die die Rechte der Kirche nicht mehr festschrieb, was die vorherige noch getan hatte. Im selben Jahr als die Niederschlagung des Prager Frühlings erfolgte und Ulbricht in Leipzig die Universitätskirche sprengen ließ.

Die SED-Kirchenpolitik: Kampf gegen den Glauben bei gleichzeitigem Werben um die Glaubenden

Die SED verlieh dem Bischof den Vaterländischen Verdienstorden und den Orden Stern der Völkerfreundschaft. Erst 1970 ging Mitzenheim in den Ruhestand. Sein Nachfolger, der 1933 in die NSDAP und in die SA eingetretene Ingo Braecklein, dessen IM-Akten mehr als 3.000 Seiten ergeben, erhielt von der Stasi schon mal als Dankeschön ein teures Teeservice aus Meißner Porzellan oder eine Brecht-Ausgabe.

Braeckleins Nachfolger im Bischofsamt, Werner Leich, wurde später sogar zum Vorsitzenden des DDR-Kirchenbundes gewählt. Als solcher erklärte er 1986 gegenüber einem Journalisten der Hamburger Zeit: „Die Kirche ist als Gesprächspartner akzeptiert, und der Staat kann sich darauf verlassen, dass die Kirche nicht in die Opposition geht.“ Auf die Frage nach der Friedensbewegung sagte der damals ranghöchste DDR-Bischof: „Es gibt keine organisierten Friedensgruppen. Die jungen Menschen arbeiten mit in der Jungen Gemeinde.“

In keinem anderen Land des sowjetischen Machtgefüges – mit Ausnahme Polens – hat die Kirche einen solchen gesellschaftlichen Einfluss gehabt. Wolfgang Rüddenklau, Pastorensohn, Anarchist und zentrale Figur der Umweltbibliothek in der Ostberliner Zionskirchgemeinde, erinnerte sich vor einiger Zeit: „Es gab in den 1980er Jahren zunehmend Freiräume, die unter anderem daher kamen, dass die evangelische Kirche mit der SED einen Vertrag gemacht hat, der innerkirchliche Druckerlaubnis, Veranstaltungsfreiheit und dergleichen sicherte – sozusagen die einzige unabhängige Institution innerhalb dieses Staates und selbst für Ostblockverhältnisse eigentlich einmalig.“

Dass ausgerechnet Honecker für eine solche Übereinkunft mit der Kirche sorgte, wunderte schon damals: War doch unter seiner Federführung als FDJ-Chef in den Jahren 1952/53 der systematische Kampf gegen die evangelische Jugend- und Studentenarbeit geführt worden. 3.000 christliche Schüler und 2.000 Studenten waren relegiert worden, hatten ihren Schul- oder Studienplatz verloren. Etwa siebzig Theologen und Jugendleiter waren verhaftet worden. Zu Schauprozessen war es gekommen. Doch Anfang Juni 1953 waren Grotewohl und Ulbricht nach Moskau zitiert worden, wo sie zum Kurswechsel verpflichtet wurden, sodass die DDR-Regierung die meisten antikirchlichen Maßnahmen zurücknahm.

Kirche sein in der DDR bedeute, „unsere Situation anzunehmen und dabei frei zu bleiben“, so der Magdeburger Bischof Werner Krusche im Jahr 1977. Krusche betonte, die evangelische Kirche in seinem Land sei keine verfolgte Kirche, nur eben eine Kirche, deren Handlungsspielraum eingeschränkt ist. Ebendieser Spielraum sei aber immer noch groß genug, „dass wir alle Mühe haben, ihn einigermaßen auszufüllen“. Diese Aussage war keiner tagespolitischen Haltung entsprungen. Es handelte sich um eine theologische Position, mit der sich Krusche über viele Jahre hinweg als führender Theologe in der DDR profiliert hatte. Krusche hat das Wort „Christenverfolgung“ nie benutzt. Auch in den Kirchengemeinden wurde davon nie geredet.

Erich Honecker (2. v. r.) 1978 mit dem Vorstand des Bundes der Evangelischen Kirchen in Berlin Foto: ullstein bild

Tatsächlich hat sich die SED an alle kirchenpolitischen Absprachen gehalten, hat nie versucht, die Kirche von unten aufzurollen wie ehedem die Nazis. Zudem hat die DDR bis zum Schluss Staatsleistungen an die Kirche gezahlt (1989: 18 Millionen DDR-Mark). Christen wurden benachteiligt, vor allem in ihren Bildungs- und beruflichen Aufstiegschancen, aber sie wurden eben nicht verfolgt.

Die jahrzehntelange Auseinandersetzung zwischen SED und Kirche war nicht nur machtpolitisch bedingt. Sie ergab sich zwangsläufig aus der Fixierung der SED auf die Religionsfrage. Auf diesem Gebiet verfolgte die Partei zwei unterschiedliche Politikstrategien: Kooperation und Konfrontation.

Der SED-Staat betrieb eine Politik, die zum einen das Ziel hatte, die Kirche in der Gesellschaft zurückzudrängen und als politischen Risikofaktor unter Kontrolle zu bringen. Parallel dazu aber verfolgten Partei, Staatssicherheit, Räte der Bezirke etc. den Versuch einer Bündnispolitik wie bei den Blockparteien. Die Mitglieder der Kirche sollten gewonnen werden zur aktiven Mitarbeit in der sozialistischen Gesellschaft. Dieses Dilemma – Kampf gegen den Glauben bei gleichzeitiger Werbung um die Glaubenden – hat die Kirchenpolitik der SED gekennzeichnet.

Die Partei proklamierte für sich selbst den absoluten Wahrheitsanspruch, der mit dem Anspruch der Religion, auf die letzten Fragen des Menschen Antwort geben zu können, konkurrierte. Bemerkenswert daran ist, dass die SED-Ideologie quasi selbst religiöse Züge trug. Versteht man unter Säkularisierung die Befreiung der Gesellschaft von der Religion, so hat es eine solche in der DDR quasi nicht gegeben.

Tatsächlich hat es hierzulande im 20. Jahrhundert eine Christenverfolgung gegeben – nur nicht in der DDR: Die evangelische Gemeinde, die sich im Ghetto Theresienstadt im Untergrund zusammengefunden hatte, umfasste zeitweilig bis zu 3.000 Protestanten jüdischer Herkunft. Die Rassegesetze der Nazis hatten sie zu „Nichtariern“ erklärt. „Wir waren Menschen, die aus ihrem Leben gerissen waren, in Hunger und Elend gestoßen“, schrieb der Gründer der Gemeinde, Arthur Goldstein, 1945 nach seiner Befreiung. „Wir waren Deutsche, wir hatten ein Vaterland gehabt. Aber unser Vaterland hatte uns ausgestoßen, uns fried- und rechtlos, ‚vogelfrei‘ gemacht. Das Vaterland war zum Feinde, zur ‚Ferne‘ geworden.“

Die Gruppe derer, die selbst oder deren Vorfahren vom Judentum zum Christentum konvertiert waren, die als Ehepartner mit Menschen jüdischer Herkunft verbunden waren, belief sich in Deutschland im Jahr 1933 auf rund 400.000 Personen. Die gesellschaftliche Ächtung dieser Menschen ging mit einer heute schwer fassbaren sozialen Verelendung einher. Wie viele „nichtarische“ Christen in den Vernichtungslagern umgekommen sind, kann heute nicht gesagt werden. Fest steht, dass diese Menschen für die Nazis gar nicht ermittelbar gewesen wären, ohne die Hilfe der Kirchen, die den Nazis allerorten Einblick in die Kirchenbücher gewährten. Die richtige „Rasse“ galt mehr als das Taufsakrament. Der Historiker Manfred Gailus spricht in diesem Kontext von einer „Christenverfolgung in der Kirche“.

Karsten Krampitz wurde als Historiker zum Staat-Kirche-Verhältnis in der DDR promoviert. Demnächst erscheint im Alibri-Verlag sein Schwarzbuch: „Jedermann sei untertan. Deutscher Protestantismus“.