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Noch mehr Druck

STRAFRECHT Zum G20-Gipfel schafft die Bundesregierung ein Sonderrecht für einen „tätlichen Angriff“ auf Polizisten

Wenn sich im Juli beim G20-Gipfel in Hamburg Zehntausende ProtestlerInnen und Sicherheitskräfte gegenüber stehen, steht wohl ein neues Repressionsinstrument parat: Der §114 Strafgesetzbuch (StGB). Dann soll ein „Tätlicher Angriff auf Vollstreckungsbeamte“ mit mindestens drei Monaten Haft sanktioniert und mit dem §113 StGB der „Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte“ nicht mehr als Individualtat definiert werden. Juristenverbände und Bürgerrechtsorganisationen üben scharfe Kritik.

Ein mögliches Szenario: Kirsten, 28, Studentin möchte ein befreundetes Pärchen mit nach Hause nehmen. Sie weist sich aus, die Polizeikräfte sind aber unsicher und wollen das Trio nicht passieren lassen. Es kommt zum Disput. Von hinten tritt ein Polizist heran, um zu beschwichtigen, was Kirsten als Anwendung von Zwangsmitteln missinterpretiert. Mit einer reflexartigen Abwehrbewegung ihres Armes schubst sie den Beamten leicht weg. Der Polizist ist nicht verletzt – dennoch hat Kirsten den Tatbestand des tätlichen Angriffs nach dem neuen Paragrafen erfüllt. Wenn die Polizei eine Waffe oder ein „gefährliches Werkzeug“ findet, liegt ein „besonders schwerer Fall“ vor, der mit einer Freiheitsstrafe von mindestens sechs Monaten bestraft werden soll.

Die Bundesregierung begründet die erneuten Strafverschärfungen – 2011 ist der §113 StGB zuletzt geändert worden – mit der zunehmenden Respektlosigkeit und Gewalt gegenüber Polizisten. Seit 2011 erfasst die polizeiliche Kriminalitätsstatistik Polizisten nicht nur als Widerstandsopfer, sondern als Opfer von Gewaltdelikten in Ausübung ihres Dienstes. 2015 seien 64.371 Polizisten Opfer von „Angriffen“ geworden, 2014 waren es 62.770 Beamte, behauptet die Bundesregierung.

Für viele KriminologInnen sind das keine aussagekräftigen Zahlen. Denn in dieser Kategorie seien Beleidigungen und Drohungen enthalten, die nicht einmal den Straftatbestand der Bedrohung erfüllten, sagt die Ex-Polizistin und Kriminologin Rita Steffes-enn vom Zentrum für Kriminologie und Polizeiforschung. Die Zahl der tatsächlichen Widerstandsfälle ist laut Statistik seit 2008 um 24 Prozent rückläufig.

Der Deutsche Richterbund, die Neue Richtervereinigung oder der Deutsche Anwaltsverein kritisieren die Reform, die gerade parlamentarisch beraten wird, als ungeeignet und nicht erforderlich. Die Bürgerrechtsorganisationen Republikanischer Anwaltsverein, Humanistische Union, Komitee für Grundrechte und Demokratie, Internationale Liga für Menschenrechte und die Vereinigung demokratischer Juristen kritisieren das „Sonderstrafrecht für Polizisten“ als verfassungswidrigen Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz. KVA