Die Zeiten sind schwierig: Die anderen werden immer jünger, die Augen müder, der Kiez wird zu groß: Ein Satz für ein Tattoo
Ausgehen und Rumstehen
von Sonja Vogel
Es ist Freitagnachmittag, und ich sitze im Büro. Das ist eine schwierige Zeit. Vor allem im Mehringhof. Unter meinem Fenster liegt der Biergarten des Clash, und alle 10 Minuten schwillt zuverlässig ein Lachen und Grölen an – die RaucherInnen haben ihre niemals leeren Biergläser von der Theke nach draußen getragen. Ich versuche, nicht hinzuhören, und starre auf die Tür. Da kleben Postkarten und Coverentwürfe. „Hitlers Tagebücher III. Die Nachkriegsjahre“, steht auf einem. Mein Bürokollege entwirft sie, wenn er nicht arbeiten möchte. Es ist seine Rache an der Lohnarbeit.
Ich gehe hinunter, wo der Verbrecherverlag seine Pforten geöffnet hat. Denn es ist der Welttag des Buches. Der Versammlungsraum ist voll. Verleger Jörg Sundermeier spricht mit den Musikern Henrik Otremba (Messer) und Andreas Spechtl (Ja, Panik) über ihr Schreiben. Es geht um die Heilsamkeit des Wortes, und ich wache erst wieder auf, als die drei Männer darüber reden, wie untypisch, ja unmännlich ihr Schreiben ist – ihr wisst schon, Songtexte, welche über Musik und die Bandkollegen. Hm. Okay.
Ich gehe ins Clash. Da ist es so voll, dass ein extra Bierglasabräumer sich unermüdlich durch die übervolle Halle drängelt. Und dann kommt der Mann mit dem Cello! Er stellt einen Stuhl auf den wackligen Tisch, besteigt ihn mit der Hilfe eines alten Punks. Er singt schwermütige Lieder auf Russisch, oft vergisst er den Text. Er hat ein schlechtes Gedächtnis und ein schlechtes Instrument. Ich spitze die Ohren, das letzte Mal nämlich lautete ein fröhlicher Refrain „Ich liebe Propaganda, ich liebe Propaganda!“. Nur ich hatte darüber gelacht.
Am Samstag möchte ich mit meinem besten Freund ausgehen. Es ist ein großer Tag, denn er ist nun Vater und hat keine Zeit mehr für solche Dinge. Auf dem Weg freue ich mich über den Neuzugang im Hinterzimmer des Steckenpferds: Eine Jodelgruppe probt dort bei offenem Fenster. Dann stehen B. und ich in seiner Kücheninsel und mischen teure Getränke schamlos schlicht zusammen: Rye Whiskey, Absinth, Bitter, Zucker. Pi mal Daumen.
Sonntagskopfschmerz
Das Baby muss beschäftigt werden, und also scheppert Turbofolk aus Smartphones: „Coca-Cola, Malboro, Suzuki!“, schön mit Akkordeon. Ohrwurm für drei Tage. Irgendwann ist es schwierig, mit Kind und Drink um den Glastisch zu tanzen. Zeit, auszugehen. Wir haben große Pläne, wollen den ganzen Kiez durchkreuzen. Und schaffen es nur in die beiden nächstgelegenen Bars. Die erste war – nicht der Rede wert. In der zweiten sind wir unter 100 Gästen die ältesten. „Vielleicht sind sogar die Besitzer jünger“ sagt B. und schweigt minutenlang. Tatsächlich ist mein Kiez schwierig: Hier gehen nur Mittzwanziger aus. Eine homogene Gruppe von Studierenden, die sich Ginger Beer in Jack Daniel’s auflösen lassen und das Longdrink nennen. – Auch mein Sonntagskopfschmerz enthält Spuren von Jack Daniel’s.
Abends gehe ich in den neuen Festsaal Kreuzberg. Zu meiner Freude ist der Saal bestuhlt. Und ausverkauft. Noch bevor Jacques Palminger mit seinem Komusiker Lieven Brunckhorst die Bühne betritt, fallen mir die Augen zu. Der Übergang ins Programm ist fließend – mit Palminger-Stimme lullt er sein Publikum ein, jeder dritte Satz so ausgefeilt und poetisch, dass ich ihn mir als Tattoo stechen möchte. Dazu werden Bachs Goldberg-Variationen gespielt, mal abgehackt, mal in Endlosschleife. „Ich schiebe meinen Nappaschuh in die Tür deiner Seele“, meditiert Palminger und erzählt, wie er in Rom in einem Laden für Kardinalsbedarf rote Seidenstrümpfe gekauft hat. Dann rollt er langsam, den Fuß auf dem Barhocker, seine Wollsocken von den Unterschenkeln und zeigt die rote Seide. Der Mann ist eine Lady.
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