„Ein Rätsel, wie es Menschen wegreißen kann“

PREIS Ehrung für von Rechten angefeindete Exbürgermeister von Tröglitz und seine Frau

„Man muss sogar als Pfarrer Menschen aufgeben dürfen“

Markus Nierth

TRÖGLITZ taz | Nein, als Helden möchten sie nicht ausgezeichnet werden, wenn sie am Sonnabend in Torgau den Preis der Lutherstädte „Das unerschrockene Wort“ erhalten. Die Projektion auf Helden entlaste von eigener Verantwortung, sagt Markus Nierth, ganz im Sinne von Brechts „Galilei“.

„Wir waren nicht unerschrocken“, erinnert seine Frau Susanna Nierth an die Tränen und das Ringen im Familienrat, ob man angesichts von Morddrohungen, Fäkalbriefen, Demonstrationen und Polizeischutz in Tröglitz bleiben solle oder nicht. 2015 hatte der zuvor beliebte Ortsbürgermeister der nahe Zeitz gelegenen Gemeinde in Sachsen-Anhalt nach Attacken wegen seines Einsatzes für 40 erwartete Flüchtlinge sein Amt aufgegeben.

Das tief christliche Ehepaar mit sieben Kindern, das sich 2007 in zweiter Ehe fand, hat die Metamorphosen ihnen eigentlich vertrauter Menschen kaum verdaut. Der 48-jährige Markus Nierth stammt aus einer leidenschaftlich lutherischen Pfarrersfamilie aus Eisleben, die 1986 in den Westen ging. Nachdem er dort Theologie studiert hatte, wollte er als junger Vikar so unmittelbar wie möglich mit Menschen arbeiten. 1999 kehrte er zurück, erwarb den alten Gasthof in Tröglitz und formte aus dessen Tanzsaal ein unkonventionelles Gemeindezentrum. Ab 2008 arbeitete er als Trauerredner, avancierte ein Jahr später zum ehrenamtlichen Ortsbürgermeister.

„Ich war verliebt in die Menschen hier, ihre Direktheit und Offenheit. Und ich begriff ihre Verletzungen, die sie nach 1990 hatten hinnehmen müssen“, sagt Susanna Nierth über ihren Wechsel aus dem Münsterland nach Tröglitz. Dann folgte die Enttäuschung, der „Liebeskummer“. Die Stimmung sei gekippt, weil er sich nicht mehr nur um die Einwohner, sondern auch um Fremde gekümmert habe, sagt Markus Nierth. Immer noch nicht fassen können beide, dass nur wenige Mitgefühl mit den Ängsten der Flüchtlinge zeigten. „Ein Rätsel, wie es Menschen wegreißt, die sich von einer pöbelnden rechten Minderheit bestimmen lassen.“

Die Erfahrung hat beide verändert. „Man muss sogar als Pfarrer Menschen aufgeben dürfen“, sagt der Theologe, der sich zunächst um alle bemühen wollte. Mit den Unerreichbaren redet auch er nun nicht mehr. Und seine Frau pflichtet bei, dass man den Hassenden „klare Kante“ zeigen müsse. Als gläubige Menschen folgen sie aber einem Fingerzeig des „himmlischen Papas“ und bleiben tapfer am Ort. Gemeinsam mit dem Ehepaar Lohmeyer aus dem mecklenburgischen Nazidorf Jamel erhalten die Nierths nun den alle zwei Jahre von den Lutherstädten vergebenen Unerschrockenen-Preis.

Micha Bartsch