Hausbesuch So ein Leben: In der Türkei geboren, mit 15 nach Berlin, Dachdecker, Arbeitsunfall mit zwei Promille, 15 Mal Entzug, jetzt Fahrradmechaniker, Anlaufstelle für Freunde, die mit ihm „Columbo“ schauen: Er will 105 Jahre alt werden
von Ann Esswein (Text und Fotos)
Kürsat Bilgic wohnt in seiner Werkstatt in einer Remise im Berliner Stadtteil Wedding.
Draußen: Durch einen Torbogen führt der gepflasterte Weg auf einen Innenhof, da wohnt Kürsat Bilgic. Kinder spielen Fußball, eine Frau, die sich mit verschränkten Armen auf die Fensterbank stützt, beobachtet sie. Gegenüber ein Parkplatz, dort: hauptsächlich Audis, tiefergelegt. Es wird Türkisch, Serbisch, Russisch – und entsprechend eingefärbtes Berlinerisch gesprochen. „Alles Zigeuner, und da oben wohnen noch ein paar Neger“, sagt Kürsat Bilgic, Türke und einer, der dort wohnt. Er grinst: „Aber das darf man ja nicht mehr so sagen, oder?“ Vor seinem Haus stehen Fahrräder eng nebeneinander. Dahinter ein Schild: „Vorsicht vor dem bissigen“, dann überklebt: „Bilgic“.
Drinnen: Kürsat Bilgic sitzt auf seiner roten Couch, vor ihm ein niederer Marmortisch. Er rührt Zucker in den türkischen Tee. Um ihn herum: Keksdosen voller Ventile und der Geruch alten Öls und kalten Zigarettenrauchs. Die Remise hat drei Räume: ein Werkzeugraum, ein Bad, und schmierölverziert das dritte Zimmer, es ist Küche, Wohn- und Schlafzimmer in einem. Vor einer Kulisse an Rädern und Gewinden flimmert der Fernseher ununterbrochen.
Kürsat Bilgic: 59, Karohemd, Weste, Schnauzer. Er stellt sich als „Bilgic, der Türke“ vor, früher auch „der Alkoholiker“. Viele im Innenhof nennen ihn „Meister“, der kleine Sinto von nebenan sagt „Opa“ zu ihm.
Der Alltag: Um Punkt 17.00 Uhr klingelt das Handy und erinnert ihn: Jetzt kommt „Columbo“. Die Fernsehserie ist die einzige Konstante an Wochentagen in seinem Leben. Sie wird nur unterbrochen, wenn jemand an die Tür klopft, der sein Fahrrad repariert haben will. Oder ein Freund kommt, der kopfnickend grüßt, und wortlos neben Bilgic auf die Couch sinkt, wie Ali zum Beispiel, („auch Türke“). Er schenkt sich Tee ein aus dem ständig vor sich hin brodelnden Messingkessel. Dazu: filterlose Zigaretten. Ab und zu würden die Freunde auch Essen mitbringen („Vitamine“). Sonst geht Bilgic zum Essen regelmäßig zur alten Nazarethkirche: („da gibt es was umsonst und gar nicht so schlecht“). Die Sozialhilfe fließt in Kippen. Und immer mal wieder in ein neues Handy, („die klauen mir ständig das Telefon“). „Die“, das sind die Nachbarn im Hof.
Damals: Bilgic wächst in einem Dorf in der Türkei auf, aus dem mit der Zeit alle Jüngeren verschwanden. In die Großstadt, weg von Konventionen, die zu eng werden, wie das Zimmer, das man sich mit den Geschwistern teilt. Bilgic hasst die Schule („vor allem Mathe“). Er geht selten hin, bleibt zwei Mal sitzen. Als er 13 Jahre ist, macht sich der Vater nach Deutschland auf, wo einfache Arbeit und Biertrinken auf der Straße versprochen wird. Zwei Jahre später kommt Bilgic mit seiner Mutter nach.
Hier: Bilgics Erinnerung an Berlin, als er ankam: schöne Mädchen, jeden Tag Disco, „Freiheit“. Wie sein Opa schon wird er Dachdecker. Das Leben auf der Baustelle gefällt ihm. Er ist immer von Menschen umgeben; das Bier kostet 30 Pfennig („ich hatte den besten Job auf der Welt“). Eines Tages, „nieselt“ es ihn vom fünften Stock („mit 2 Promille). Zwischen Gerüst und Hauswand bleibt er stecken, erzählt er und zeigt seinen rechten kleinen Finger, steif eingerollt, „der hat mich gerettet“. Seither kann er nicht mehr richtig schlafen: „Ich träum immer, ich rutsch ab.“ „Die“ – jetzt sind Ärzte gemeint – attestierten Bilgic Arbeitsunfähigkeit, aus physischen und psychischen Gründen. Frührente aber heißt für einen wie ihn: Nebenjob. 1989, als die Mauer fällt, ist er einer der ersten, der mit Hammer und Meißel zum Checkpoint Charlie geht, um Stücke aus der Mauer zu hauen: „Die haben wir für gutes Geld an der Kochstraße verkauft.“
Familie: Am Checkpoint Charlie trifft er Nurgül, eine Touristin, („wunderschön“). Sie verabreden sich in einem Café. Bilgic will die 25-Jährige heiraten. Sie sagt nein – zuerst. Sie stört sich an seinem ständigen Begleiter: dem Bier in der Hand. Ein Jahr später heiraten sie doch, bekommen eine Tochter, später einen Sohn. Die Tochter, sei lustig („wie ich“), Lehrerin und „ordentlich“. Der Sohn „diktatorisch, wie Erdoğan“. Was sein Sohn macht, wisse er nicht so genau. Irgendwas mit Autos. Von seiner Frau ist er geschieden.
Der Laden: In seinem Fahrradladen lebt Bilgic allein. Fahrradmechaniker im Wedding wurde er aus Versehen. Angetrunken an einem Sommerabend erzählte er dem befreundeten Vorbesitzer des Ladens, („ein Aserbaidschaner“), dass er weg wolle aus Kreuzberg, wo Bilgic bis dahin wohnte. Er wollte Ruhe haben. Mit dem letzten Bier schlagen sie ein, Bilgic bekommt den Laden inklusive Inventar. Doch anstatt Ruhe klopften nun jeden Tag Leuten an und wollten ihre Fahrräder repariert haben. Und Bilgic nickte gutmütig, („ich hatte noch nicht einmal eine Ahnung, wie man einen Reifen flickt“). Die meisten Sachen bringt er sich selbst bei oder lernt sie von Freunden.
Freundschaft: Knapp zwanzig Freunde hätte er und zählt auf: die serbischen Kinder aus dem Hof, ältere türkische Herren, die Alkis nebenan, eine Künstlerin, die ein Schild für ihn malte, eine Studentin, die Suppe vorbei bringt. An der Pinnwand hängen Telefonnummern von Besuchern, sorgfältig mit Füller notiert, außerdem: die Notfallkarte des Jüdischen Krankenhauses um die Ecke.
Der ständige Begleiter:Im Jüdischen Krankenhaus können Alkoholiker Entzug machen. Bilgic sei schon „Dauergast“. 15 Mal war er dort, weiß Ali, eine Hand auf dem Oberschenkel, die andere spielt mit der Gebetskette. Er ist Taxifahrer, gewohnt, sich Geschichten anzuhören. Bilgics Geschichte hat mit Saufen zu tun. Oft fand ihn die Exfrau am Boden liegend, inmitten von Bierflaschen. Warum er trinkt, fragt Ali, und Bilgic zuckt die Schultern, „mein Körper will das so“. Und zwei Zigarettenzüge später: „Weil ich sonst traurig bin.“
Der Entzug:Links aus dem Hof gäbe es die Erlösung bei Netto für knapp fünf Euro, in Form von Wodka, sagt Bilgic: „davon schaff ich sogar zwei, dann ist alles gut“. Rechts aus dem Hof in gleicher Entfernung die Notfallstelle, kalter Entzug, zehn Tage. Der letzte: vor fünf Monaten. Sein Vater hätte ihn noch nie trocken gesehen: „zumindest nicht, seit ich erwachsen bin“. Der Vater lebt wieder in der Türkei. „Er wird sich die Augen reiben“, sagt Bilgic über den anstehenden Besuch bei ihm. Der erste nach fünf Jahren und wahrscheinlich auch der letzte.
Altern: Er sei jetzt Deutscher. Alt werden will er in Berlin, nicht aber in seinem Laden. „Ich will 105 werden“, sagt Bilgic. Was er mit den vielen Jahren noch anstellt: „Irgendwas find ich bestimmt.“ Vor Kurzem lag ein Schreiben im Briefkasten: Zwangsräumung, weil die Häuserzeilen einem Wohnblock weichen müsse („auch gut so, ich muss hier langsam raus“). Am liebsten würde Bilgic ein Café aufmachen, mit türkischem Tee und deutschem Gebäck. Einem Ort, wo man zusammen redet, raucht, Fernseh schaut, „Columbo“ natürlich. Oder Fahrräderschrauben. Außerdem: „gesund bleiben“, sagt Bilgic, dann korrigiert er sich: „oder gesund sein“. Trocken bleiben, meint er.
Und wie findet er Merkel?„Gut“, sagt Bilgic, „sie gibt Geld für Rentner.“ Sie würde sich um jeden kümmern. Auch um einen „Türken wie mich“.
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