Alke Wierth leistet Erste Hilfe beim U-Bahn-Fahren: Eigentlich gar nicht so schlimm
Ich fahre nicht mehr oft mit meiner Tochter U-Bahn, sie ist 20 und geht ihre eigenen Wege. Als wir kürzlich doch einmal gemeinsam nach Hause fuhren, brach in der U-Bahn ein Mann zusammen. Ein Mann wie Sie und ich, vielleicht Mitte 50, er hätte tatsächlich gut taz-Leser oder -Kollege sein können. Er klappte vornüber, die Augen verdreht, das Gesicht verzerrt, wächsern-gelblich seine Hautfarbe, die überwiegend jungen Leute in dem vollen U-Bahn-Wagen machten höflich Platz. Ein Fahrgast, auch jenseits der 50, half mir, den Bewusstlosen an der nächsten Station aus dem Wagen zu schleppen. Meine Tochter telefonierte derweil mit dem Notruf, mit Hilfe aus dem Handy brachten wir den Mann in die Seitenlage. Als die Sanitäter und eine Notärztin kamen, bedankten sie sich für unsere Hilfe: Das sei nicht selbstverständlich. Als sie den Zusammengebrochenen abtransportierten, sagte meine Tochter: „Tja, U-Bahn fahren in Berlin …“
Ach, Berlin sei eigentlich gar nicht so schlimm, sagte der andere Fahrgast, der geholfen hatte. Vielleicht hielt er uns für Touristinnen und wollte uns Ängste nehmen. Ich dachte daran, wie verschieden man Realität, abhängig von Geschlecht und Alter und auch Herkunft, wahrnehmen kann.
Meine Tochter, in Berlin aufgewachsen und zu Hause, erzählt mir in der letzten Zeit öfter, wie ungern sie noch nachts mit öffentlichen Verkehrsmitteln fährt. U-Bahn sei schlimmer als Bus, bestimmte Bahnhöfe meide sie am liebsten völlig, etwa das Kottbusser Tor. Und das nicht zwischen Mitternacht und morgens, nein, vom frühen bis zum späten Abend sei es dort am schlimmsten. Jungsgruppen, die Mädchen anbaggerten, seien nichts Neues, sagt sie: Aber deren Aggressivität habe ebenso stark zu- wie die Bereitschaft anderer Fahrgäste oder Wartender, sich einzumischen, abgenommen.
Ich muss an einen Freund denken, I., Deutscher halb marokkanischer und halb tunesischer Herkunft („Ich bin zwei Nafris!“), ein großer und kräftiger Mann in seinen besten Jahren. Er habe kürzlich einem Mädchen geholfen, erzählte er mir, am Kotti, das von Jungs („zwei Schwarzköpfe, ein Blonder“) belästigt wurde. Als die Jungs verschwanden, sei sie, laut „Scheißkanaken!“ brüllend, davongegangen. „Ey, dir hat gerade ein Kanake aus der Scheiße geholfen“, erzählte I., habe er sich nur gedacht.
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