So geht Kricket: Der Bowler wirft, der Batsman hinten mit dem Schläger wartet. In Hellersdorf will ein Kricketteam von Geflüchteten den Sport populärer machen Foto: Sebastian Wells

Ein ganz neuer Ball im Spiel

Sport Was denn Kricket ist? Das erklären einem Geflüchtete aus Pakistan und Afghanistan gern in Hellersdorf. Hierher haben sie den in ihrer Heimat beliebten Sport gebracht – und sie träumen bereits von der Bundesliga

von Judith Poppe

Habib Ullah Safi, der Batsman (Schlagmann), steht in Trainingshose in einer kleinen Turnhalle in Hellersdorf, hinter ihm ein kniehoher Pappkarton, und holt mit einem Schläger aus. Von der anderen Seite der Halle wirft Sajid Khan, der Bowler (Werfer), mit einer großen Ausholbewegung einen mit Tape umwickelten Tennisball Richtung Pappkarton. Die beiden trainieren einen Sport, der nicht nur in Hellersdorf bislang so gut wie unbekannt sein dürfte: Kricket.

„Was ihr hier seht“, erklärt Khan (31) nach seinem Wurf, „ist natürlich nur für das Training in der Halle“. Auf einem Outdoor-Kricketfeld stecken statt eines Kartons die Wickets in der Erde, das sind drei aufrecht stehende und zwei senkrecht darüberliegende Stäbe, auf die der Bowler mit einem harten Ball aus Kork, Leder und Schnur zielt. Aber für das professionelle Kricket fehlt dem neu gegründeten Hellersdorfer Team bisher noch das Equipment – und das Feld.

Khan kommt aus Peshawar in Pakistan. Kricket ist dort das, was in Deutschland Fußball ist. Die Kricketspieler sind Superstars, die Kinder trainieren auf der Straße und träumen davon, für die Nationalmannschaft zu spielen.

Auch Khan war eines dieser Kinder. Und vor seinem Studium der Umweltwissenschaften in Pakistan war er für einige Jahre Profispieler. Dann musste er seine Heimat aus politischen Gründen verlassen und ist zunächst in eine Flüchtlingsunterkunft nach Hellersdorf gekommen. Seitdem arbeitet er als Freiwilliger im Laloka, einem selbst organisierten Internetcafé von Geflüchteten, wo an den Wochenenden Kricketübertragungen aus Pakistan und Afghanistan im Fernseher laufen.

„Hier im Laloka haben wir zusammengefunden“, erzählt Khan: „Es sind immer wieder Leute auf mich zugekommen und haben gesagt: Wir wollen wieder Kricket spielen.“ So auch Habib Ullah Safi, der Batsman, denn der 20-jährige Afghane möchte Profispieler werden.

Sport auch bei den Taliban

Auch in Pakistans Nachbarland Afghanistan ist Kricket Sport Nummer eins. Die afghanischen Flüchtlinge haben den Sport aus ihren Flüchtlingslagern in Pakistan mit nach Afghanistan genommen und dort populär gemacht – selbst die Taliban haben eine Ausnahme für diesen Sport gemacht, der ursprünglich wie jeder Sport verboten war. Nun baut Khan ein Team in Hellersdorf auf und versucht, den Sport auch unter Hellersdorfern populär zu machen.

Unterstützung erhält er dabei unter anderem von Raiko Hannemann, der bis vor Kurzem die „Bezirkliche Koordinierungsstelle für Demokratieentwicklung“ leitete. Hannemann war sofort begeistert: „Es ist das erste Projekt im Bezirk, das nicht von gut meinenden ‚Flüchtlingshelfern‘für passiv ‚hilfsbedürftige Flüchtlinge‘organisiert wurde. Es ist ein Projekt nicht für, sondern von Menschen mit Flucht­erfahrung. Für Hellersdorf kann die Initiative enorm bereichernd sein und statt einer einseitigen Integration eine Möglichkeit zu aktivem Austausch schaffen.“

Hellersdorf kann das gut gebrauchen. Viele der Geflüchteten, die mit Khan trainieren, wohnen in Flüchtlingsunterkünften in Marzahn-Hellersdorf, einige in der Maxie-Wander-Straße. Als im Sommer 2013 die ersten Flüchtlinge in das leer stehende Schulgebäude zogen, herrschte zum Teil eine Pogromstimmung, die an Rostock-Lichtenhagen erinnerte.

Seitdem ist es ruhiger um die Unterkunft geworden. Die Kricketspieler erfahren viel Unterstützung in Hellersdorf, neben Hannemann sind das beispielsweise die Nachbarschaftsinitiative „Hellersdorf hilft“ oder die Freiwilligenkoordinatorin der Flüchtlingsunterkunft.

Als Vision schwebt ihnen allen vor, die Brache vor der Flüchtlingsunterkunft zu einem Freizeit-Kricketfeld zu machen. Zurzeit wird das Stück Land von dem Kreuzberger Kunstverein NGBK zwischengenutzt: Im Rahmen des Kunstprojekts „Mitte in der Pampa“ bespielen Künstler*innen die Brache mit partizipativen und aktivierenden Kunstprojekten, unter ihnen auch Adam Page.

Gut für das Zusammenspiel

Der gebürtige Engländer hat ein doppeltes Interesse an diesem Projekt, als politischer Künstler und als passionierter Kricketspieler: „Es gibt keinen Sport, der geeigneter ist, eine Zusammenkunft von verschiedenen Sichtweisen zu ermöglichen, und davon kann Hellersdorf profitieren“, erklärt Page: „Kricket ist ein verlangsamtes Spiel, es geht um Details, es wird viel gesprochen.“ Zumindest die Freizeitversion setze laut Page nicht so sehr auf athletische und physische Aspekte, sodass alle Generationen, Frauen und Männer zusammenspielen könnten. So könnten sich Alt-Hellersdorfer und Neuzugezogene in den klassischen Tee- und Mittagspausen am Spielfeldrand treffen, die Wetterbedingungen, die Härte des Bodens und die dazugehörige Spieltaktik besprechen und getapte Tennisbälle über die Brache schlagen.

Diese Vision hat einen Dämpfer erhalten. Auf eine kleine Anfrage vonseiten der Grünen antwortete die Bezirksverwaltung, diesem Vorhaben unter anderem wegen anderer städtebaulicher Planungen „kritisch gegenüber“ zu stehen. „Das ist allerdings noch nicht entschieden“, äußert sich Dagmar Pohle (Linke), Bezirksbürgermeisterin und Bezirksstadträtin für Stadtentwicklung. „Ich stehe dem Projekt aufgeschlossen gegenüber, wir prüfen außerdem alternative Standorte.“

Vor einigen Monaten hat der Hellersdorfer Athletik Club Berlin den Kricketspielern eine Mitgliedschaft im Verein angeboten. Seitdem trainiert das Team um Khan einmal pro Woche in der Vereinsturnhalle. „Das ist ein wichtiger erster Schritt“, erklärt Khan. Die Bedingungen sind dennoch nicht leicht für das Team – und auch nicht für Khan selbst, der zurzeit mit einer Duldung in Deutschland lebt. Er strahlt trotzdem Zuversicht aus. „Unser Plan ist, ab Mai in der Regionalliga Nordost einzusteigen“, sagt Khan. „Aber dafür brauchen wir professionelles Equipment, Beinschützer, Bälle, Schläger. Es wäre toll, wenn wir dafür Sponsoren finden könnten.“

Ihre offiziellen Spiele können sie zunächst auf dem Maifeld im Olympiastadion absolvieren, dem einzigen Kricketfeld in Berlin. Aber Khans Traum geht noch weiter: „Das erste professionelle Kricketfeld Ostberlins, in Hellersdorf – das wär’s!“

Kricket ist verwandt mit Baseball. Die Regeln sind kompliziert, in Kurzform: Punkten kann ein Team dadurch, dass der Schlagmann (Batsman) den Ball weit wegschlägt und so möglichst viele Punkte (Runs) erzielen kann. Der Werfer (Bowler) des gegnerischen Teams versucht, den Batsman zu Fehler zu bewegen, damit dieser ausscheidet.

Die klassische Variante dieses englischen „Gentlemen“-Sports, das sogenannte Test-Kricket, dauert bis zu fünf Tage – in täglich drei rund zweistündigen Spielabschnitten, unterbrochen von zahlreichen Tee- und Lunchpausen.

Seit den 1960er Jahren gibt es das fernsehkompatiblere Ein-Tages-Kricket sowie das 2003 eingeführte Twenty20-Kricket, das circa drei Stunden dauert.

In Berlin gibt es sechs Kricketteams. Die Punktspiele finden auf dem Maifeld auf dem Olympiagelände statt, dem einzigen professionellen Kricketfeld hier.

In den letzten Jahren hat der in Deutschland so gut wie unbekannte Sport durch den Zuzug von Menschen unter anderem aus Pakistan und Afghanistan einen Boom erfahren. Die Mitgliedszahlen des Deutschen Kricket-Bundes steigen täglich, zahlreiche neue Teams sind im vergangenen Jahr entstanden.

Die Finanzlage des Deutschen Kricket-Bundes ist dennoch prekär, von Kricket im Fernsehen ist man hier noch weit entfernt. Während Profispieler in Pakistan und Afghanistan Millionengehälter bekommen, gibt es in Deutschland nicht einen Spieler, der von Kricket leben kann.

Auch Page kommt von Zeit zu Zeit zum Training in die Sporthalle. Die Kolonialgeschichte des Sports ist dem gebürtigen Engländer bewusst, aber für ihn bedeutet Kricket vielmehr etwas Weltoffenes und Internationales. „Als Kind konnte ich am Rande des Spielfelds die Spieler ansprechen, das waren meine ersten Kontakte zu Personen aus Indien, Pakistan, Australien. Aber auch jetzt, wenn ich hier mit Sajid und den anderen Kricket spiele, sehe ich vor allem das Verbindende – unsere gemeinsame Leidenschaft für diesen Sport.“

Auch für Khan steht die Kolonialgeschichte nicht im Vordergrund. „Es ist richtig“, sagt er und nickt: „Der Sport wurde überall im Commonwealth gespielt, aber ich würde nicht sagen, dass uns der Sport aufgezwungen wurde, ich würde eher sagen, wir haben ihn umarmt und zu unserem gemacht.“

Wenn die Hallentür während des Trainings offen steht, schauen manchmal Passant*innen neugierig durch die Tür. „Kricket?, wiederholen sie dann fragend“, erzählt Khan und schüttelt lachend den Kopf. „Dieser Sport ist in Hellersdorf einfach völlig unbekannt.“

Khan, Safi und die anderen möchten einen Kricketzweig im Athletik Club Berlin aufbauen, Kinder und Jugendliche trainieren. „Gerade waren ein paar Kinder beim Training und haben zugeguckt“, sagt Khan. „Ein Junge hat gleich mitgespielt. So stellen wir uns das vor.“

Ihr Ziel ist, möglichst bald in die Bundesliga aufzusteigen. „Aber das kommt ganz auf die Möglichkeiten an, uns vorzubereiten.“ Khan lächelt und zuckt mit den Schultern. „Der Saisonstart ist schon in wenigen Wochen.“

Die afghanischen Spieler schnappen sich einen Basketball und werfen ein paar Körbe – die pakistanischen verlassen das Training aber schon, um in ihr Internetcafé, das Laloka, zu gehen. Auch Khan zieht es dorthin: Das Team seiner Heimatstadt Peshawar spielt, das Spiel ist im Café zu sehen.