Künstlerin neubewertet

Überholspur Seit Kurzem wird die Ausnahmekünstlerin Paula Modersohn-Becker über Deutschland hinaus als progressive Mitstreiterin der internationalen Avantgarde bewertet. Das wurde auch Zeit

Wenn in Hamburg Bilder von Paula Modersohn-Becker gezeigt werden, gilt eine solche Ausstellung gerade im Norden Deutschlands keiner Unbekannten: Worpswede! Die Liebe! Die Kinderbilder! In Dresden 1876 geboren, in Bremen zur Lehrerin ausgebildet, lebte die junge Künstlerin im Worpsweder Malerkreis um Otto Modersohn und Heinrich Vogeler.

Sie war mit Clara Westhoff und Rainer Maria Rilke, auch mit Carl und Gerhard Hauptmann und dem Soziologen Werner Sombart befreundet. Ihre Anregungen holte sie sich bei drei längeren Aufenthalten (1900, 1903, 1905) immer wieder im damaligen Kunstzentrum Paris, sie besuchte Rodin und lernte Paul Gauguins Bilder schätzten sowie die von Paul Cézanne, der 1903 in Deutschland noch ganz unbekannt war. Doch schon mit 31 Jahren verstarb sie an den Spätfolgen ihrer ersten Geburt. Gerade letzten Dezember erschien der Kinofilm „Paula – Mein Leben soll ein Fest sein“ über dieses kurze, intensive Leben.

Aber schwelgerische Kinoromantik und heutige Emanzipationsverherrlichung liegen ebenso wie die damalige Ablehnung weiblicher Kunstaktivitäten wie ein Schleier vor der tatsächlichen Kunst. Auf deren bahnbrechend modernen Charakter will die vom ehemaligen Kunsthallen-Direktor Uwe M. Schneede und Kathrin Baumstark kuratierte Ausstellung im Bucerius Kunst Forum nachdrücklich hinweisen. Denn in der schwierigen Zeit des beginnenden 20. Jahrhunderts ist Paula Modersohn-Becker eine große Künstlerin des Dazwischens.

Zwischen Stadt und Land, zwischen deutscher Heimatverehrung und französischer Avantgarde, zwischen Familie und Selbstverwirklichung und – Kunstepochen betreffend – zwischen Spätimpressionismus einerseits und Expressionismus, Fauvismus und Kubismus andererseits. Erst seit Kurzem wird die einst bloß zu den „Malweibern“ zählende Künstlerin über Deutschland hinaus als progressive Mitstreiterin der internationalen Avantgarde bewertet und erhielt große Ausstellungen 2014 in Louisiana bei Kopenhagen und 2016 in Paris.

Da die malerisch formalen Erfindungen im etwa 750 Bilder und fast 1200 Zeichnungen umfassenden Werk motivisch anhand von Selbstporträts, Kindern und Blumen präsentiert werden und ohne großes Echo aus einer ländlichen Künstlerkolonie kamen, wurde die Wahrnehmung Paula Modersohn-Beckers lange Zeit stark verniedlicht. In der älteren Kunstgeschichtsschreibung ist zu lesen, sie sei eine Frau, die „die Liebe über den Kern der Dinge legt“ oder auch, ihr Werk sei „ein gemalter Schrei nach dem Kind“.

Derartige Urteile scheinen die damals kaum Ihresgleichen findenden Bildkompositionen nicht ernsthaft wahrgenommen zu haben. Maskenhafte Gesichter mit manchmal erschreckend hohlen Augen, frontale, rituell zentrierte Hochformate in Anlehnung an ägyptische Mumienporträts und die kühnen Selbstporträts als Akt. Aber auch die Verwendung der Abklatsch-Technik und der Geometrisierung zur Reduktion der Komplexität, unvollendet wirkende Figuren als sich der Abstraktion annähernde bloße Farbwerte im Grün der Natur.

Übersteigerte, formgebende Farbwerte und zwischen Außen und Innen indifferente Bildräume, die völlig unsentimentalen und stark stilisierten Kinderbilder, die Mensch und Birkenstamm nahezu gleichwertig behandeln, oder Früchte, Blumen und Landschaftselemente als losgelöste, mitunter fast irreale Teile im Bildaufbau. Alle wenigstens ähnlichen Bildfindungen der Moderne in Kubismus und Futurismus, „Brücke“ und „Blauer Reiter“ werden erst zu Daten virulent, die nach Paula Modersohn-Beckers frühen, angeblich mit den letzten Worten „Wie schade!“ quittierten Tod 1907 liegen.

Die Künstlerin suchte in Paris und in ihrer Kunst das „Merkwürdige“. Sie meinte das im Sinne von neu und bemerkenswert. Ihr Worpsweder Umfeld, selbst ihr damals allgemein geschätzter Ehemann Otto, der sie in vielem auch unterstützte, fand manches aber seltsam und ungekonnt. Rilke fand 1906: „Das merkwürdigste war, Modersohns Frau in einer ganz eigenen Entwicklung ihrer Malerei zu finden, rücksichtslos und geradeaus malend, Dinge, die sehr worpswedisch sind und die doch nie einer sehen und malen konnte.“ 110 Jahre nach ihrem Tod ist es durchaus an der Zeit, das Merkwürdige in dieser Auswahl von rund 80 Arbeiten in seiner wirklichen Bedeutung zu bemerken. Hajo Schiff

„Paula Modersohn-Becker. Der Weg in die Moderne“: bis 1. Mai, Buceruis Kunst Forum, Rathausmarkt 2, Hamburg

Katalog im Hirmer Verlag, 192 Seiten, 29 Euro